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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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Gesicht plötzlich die Verachtung lesen, als sie verkniffen zischte: »Türken! Was denn sonst!«
    Sie hätte, wenn ihr Plastikbeutel gestohlen worden wäre, sicherlich Recht gehabt. Denn niemand sonst, der in dem Laden wartete oder sich Obst aussuchte, war Deutscher – bis auf mich.
    Doch so entstand mit einem Schlag ein seltsam angespanntes Schweigen.
    Einige Kunden schauten die Frau und ihren Kinderwagen verstohlen an. Andere musterten nicht nur feindselig die Frau, nein, sie starrten auch ihr Kind im Kinderwagen an. Denn wer mag sich schon auf solche Art beschuldigen lassen?
    Es war möglich, dass die Frau, weil ihr Kind geschrien hatte, in der Nacht kaum hatte schlafen können. Es war möglich, dass sie deshalb müde war, misslaunig und überreizt. Trotzdem war es nicht gut, sich derart aufzuregen, und auch falsch, denn unten im Wagen lag ja das Gemüse. Aber weil es Ayfers Bruder schwerfiel, richtig deutsch zu sprechen, und weil ihm die Aufregung die Sprache zusätzlich verschlug, konnte er nur mit dem Finger stumm auf die Ware zeigen.
    Aber niemand sah nach ihm. Alle starrten auf die Frau, die plötzlich spürte, dass die Atmosphäre bedrohlich wurde, und sich deshalb hinter ihrem Kinderwagen zurückzuziehen versuchte.
    Die Erste, die etwas zu sagen wusste, war, wie oft in solchen Fällen, Ayfer: »Warum sind Sie wegen des Gemüses gleich so aufgebracht?«
    Ihr Deutsch war diesmal makellos, und sie hatte außerdem einen Ton getroffen, der zwar höflich klang, aber bissig war und böse. Die Frau ruckte an ihrem Kinderwagen, so, als wolle sie die Kisten mit dem Obst beiseiteschieben, um rasch zum Ausgang zu gelangen.
    Und ehe sie etwas erwidern konnte, sagte Ayfers Vater, dem es nicht leichtfiel, deutsch zu sprechen: »Da aber liegt das Gemüse, unter dem Arsch von das Kind.«
    Die Leute lachten. Nur die Frau senkte beschämt den Kopf und verließ – man half ihr sogar mit dem Kinderwagen – das Obstgeschäft. Sie murmelte Entschuldigungen, die kaum jemand verstand.
    Zuerst schien Ayfer mich zu übersehen.
    Ihr Bruder grinste mir kurz zu. Ihr Vater reichte mir die Hand. Sie packte Pampelmusen aus und schaute mich nicht an.
    Nach einer Weile nuschelte ich: »Hallo.« Sie richtete sich langsam auf, musterte mich von Kopf bis Fuß, als hätten wir uns nie zuvor gesehen. Dann sagte sie: »Ach, du bist es. Ich dachte schon, du hättest dir die Haare abrasiert?«
    Und nach einem kurzen Schweigen meinte sie sehr leise: »Eigentlich wollte keiner mehr mit euch, mit Franco oder dir, je wieder reden.«
    Und während ich nicht wusste, was ich erwidern sollte, sondern nur merkte, dass der Laden, vor allem der Geruch, mir viel vertrauter vorkam als die Wohnung meiner Eltern, fragte Ayfer: »Und wie sind sie, deine neuen Freunde?«
    Ich sagte: »Sie sind nicht meine Freunde. Ich dachte nur, dass Franco … vielleicht … ich weiß es nicht.«
    Wahrscheinlich, weil sie klüger war als alle anderen von uns, tat Ayfer plötzlich etwas, das ich ihr nie vergessen werde, egal was noch passiert: Sie schloss mich in die Arme. Das sind die richtigen Worte. Auch wenn es nach Mutter und Muttersöhnchen klingt.
    Später saßen wir auf den Stufen neben dem Obstgeschäft. Die Luft war warm und roch nach Autos. Der Himmel wurde dunkelrot. Wir aßen Fladenbrot. Die Tauben stritten sich um die Reste oder gurrten.
    Mit einem Mal und ohne jede Vorbereitung fragte Ayfer, ob die Brüder bösartig seien, also bloß deshalb gewalttätig, weil es ihnen Spaß macht.
    »Nee«, sagte ich und musste husten, weil mich die Frage überraschte. »Nee«, sagte ich. »Die sind einfach so, weil’s zu ihrer Welt gehört, verstehst du?«
    »Und weshalb«, erkundigte sich Ayfer, »bist du nicht bei ihnen geblieben? Sondern zu mir gekommen, in ein Obstgeschäft von Türken, wo man Deutsche manchmal nicht besonders mag?«
    »Ich glaube«, antwortete ich und meinte das Gefühl der Wärme nicht nur zu spüren, sondern auch zu schmecken. »Ich glaube«, wiederholte ich, »weil mir die Welt der Brüder einfach zu dunkel ist.«
    Und nach einer Weile murmelte ich, fast unhörbar, denn mir war peinlich es zu sagen: »Und weil man mich in der Welt der Brüder deshalb nur selten sieht. Ich rede ja so wenig.«
    »Das klingt ein bisschen altklug«, flachste Ayfer. Sie kicherte. Und musste danach lachen: »Von mir das eben auch.«

18
    Die Brüder betraten das Klassenzimmer, als hätten sie niemals gefehlt, als wäre nichts geschehen, obwohl man noch die Narbe auf Viktors

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