Wer sich nicht wehrt
»Kommt!« Der Wagen war sanft angefahren. Wir hatten uns zurückgelehnt und waren in der Rückbank fast versunken. Das sicherlich sehr teure Auto schwebte mehr, als dass es rollte.
»Warum reist er?«, fragte Ayfer auf der tiefen Rückbank leise.
»Ist Geschäftsmann«, sagte Kai. »Oder so was Ähnliches. Viktor und sein Vater ziehen immer um.«
Ich sah, dass Ayfer grübelte. Vorne tat Viktors Vater so, als ob er nichts verstehen könne. »Und wo geht Viktor dann zur Schule?«, entfuhr es Ayfer, so, als sei die Frage ganz besonders wichtig. »Wie macht er das in all den andern Ländern?«
»Das ist nicht so schwierig«, meinte Lisa. »Deutsche Schulen gibt es beinah überall.«
Und während ich mir überlegte, ob Viktor wohl an jeder Schule genauso seltsam gewirkt hatte, bremste Viktors Vater lässig, wandte sich um und sagte: »Wir sind da.« Kein Schloss. Noch nicht mal eine Villa. Bloß ein Einfamilienhaus mit Garten. Und selbst der Garten hatte nur drei Beete und etwas bräunlich gelb verbranntes Gras.
»Kommt herein«, meinte der Vater. Wir stiegen zögernd aus dem Auto. Besonders zögernd rutschte Ayfer von der Rückbank, wand sich langsam aus dem offenen schwarzen Wagen und betrat das winzige Stück Wiese. Auch mir war nicht wohl. Denn ich sah Ayfer wieder vor Viktor stehen, erinnerte mich, wie sie ihn auf der Fete bat, mit ihr zu tanzen. Außerdem mochte ich Viktor seit dem Liebesbrief auch nicht mehr als früher.
Ich hatte sogar überlegt, als uns der Vater zu sich einlud, nicht mitzugehen. Aber dann hatte ich gedacht, dass es besser wäre, Ayfer zu begleiten. Denn man konnte ja nicht wissen, ob Viktor die Liebesbriefe nun nicht eher Ayfer schrieb als Tina. Leuten mit gestelzten Gesten konnte man nicht trauen.
Im Haus war es kühl. Der Raum wirkte riesig, obwohl das Gebäude von außen nicht besonders groß ausgesehen hatte. In jeder Ecke hockten Porzellangeparden. Auf dem Tisch aus Glas lag eine Decke. Dann kam eine Frau aus Thailand mit einer Karaffe in den Raum.
Ayfer stand nur da und staunte. Kai und Lisa setzten sich. Beiden wurde eingegossen. Und während Kai sich unsicher an seine Brillenbügel griff, weil er nicht wusste, ob es ihm erlaubt war, sofort zu trinken, oder nicht, begann ich mich zu fragen, ob die Brüder, was Viktor anging, nicht im Recht sein könnten.
»Stinkt nach Kohle, ist ein Arschloch«, hatte Eberhard gesagt. Bis mir einfiel, dass auch meine Eltern sicher genug Knete hatten und auch bei uns manchmal eine Polin sauber machen kam.
Die Frau aus Thailand huschte lautlos aus dem Zimmer. Ayfer zerrte mich hinter sich her zum Esstisch. Die Stühle waren unbequem. Wir tranken vorsichtig den Saft. Frisch gepreßt und bunter Mischmasch. Der Vater saß nun ebenfalls. Ich fragte mich, wo Viktor blieb. Die Uhr, die neben dem Kamin stand, schlug übermäßig laut.
Ich hoffte, dass mir nicht das Glas umkippen und der rote Saft über das Tischtuch fließen würde. Denn so etwas geschah mir oft. Gerade in solchen Augenblicken. Und deshalb fasste ich das Glas mit beiden Händen an. Die andern schwiegen.
Sie schauten sich beklommen im übergroßen Zimmer um. Aber es gab nicht viel zu sehen. Den Tisch und eine Sitzecke. Und diese Porzellangeparden. Und einige Kakteen.
Ich hoffte, dass Viktors Vater endlich etwas sagen würde. Nippte am Saft und sah mich in Gedanken schon durch das große Fenster hechten. Kurz abrollen und am Swimmingpool vorbei zur Straße rennen. Als könnte er Gedanken lesen, sagte Viktors Vater ohne Grund: »Das Haus ist nur gemietet.«
Ich schrak aus meinen Träumen auf. Und beinah kippte mir das Glas doch noch auf den Tisch. Denn Ayfer stieß mir mit dem Fuß ans Schienbein, weil Viktor jetzt ins Zimmer kam. Doch er bewegte sich so leise, dass niemand außer Ayfer es bemerkt hatte.
Noch immer war die Narbe stellenweise nur verschorft. Sogar die dunklen Fäden ragten noch immer aus der Haut hervor.
Ohne uns ins Gesicht zu sehen, sagte Viktor müde: »Hallo, guten Tag.« Und ebenso wie Ayfer wurde mir mit einem Schlag klar, dass Viktor uns auf keinen Fall eingeladen hatte.
Dann setzte er sich zu uns. Trank still von seinem roten Saft, als sei in seinem Glas bloß eingefärbter Lebertran, stellte, während sein Vater unruhig hin und her rutschte, schließlich das Getränk ab, sah zu Boden.
Und weil die Einzige, die sich in dem großen Esszimmer bewegte, die junge Frau aus Thailand war, die mit leisen Schritten das Salzgebäck auftrug und danach schnell
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