Wer sich nicht wehrt
hinausging, und weil das einzige Geräusch außer der Uhr die Gläser machten, die an die Glastischplatte stießen, gelang es Viktors Vater nicht, sich länger zu beherrschen. Er meinte, wenn auch zögernd: »Ihr seid doch seine Freunde.«
Und dann stand Viktor auf. Als er den Raum verließ, sagte er nichts. Wir schwiegen auch. Was hätten wir sonst tun sollen?
Ich überlegte, was Viktor seinem Vater erzählt hatte, ob er den Brief erwähnt hatte. Kai musste husten.
Ayfer murmelte unwillkürlich und man merkte ihrer Stimme immer noch das Staunen an – über Haus, Raum, Uhr und die Porzellangeparden: »Ich habe ihn nur zweimal im Krankenhaus besucht.«
Und Lisa fügte rasch hinzu: »Wir eigentlich gar nicht.«
Der Vater öffnete den Mund, als wolle er erwidern: Aber er hat mir doch gesagt …! Nur klappte währenddessen die Klotür überlaut ins Schloss. Man hörte einen Haken, den Riegel. Danach Wasserrauschen. Der Vater erhob sich rasch und rannte zur Toilette. Die Goldrandbrille rutschte ihm fast vom Gesicht.
Und während er begann durch die geschlossene Klotür auf Viktor einzureden – man sah ihn nicht, man hörte ihn bloß –, schauten wir uns wortlos an, standen leise auf und schlichen, unbemerkt von Viktor und seinem Vater, aus dem Haus und rannten schließlich über den verbrannten Rasen bis zur nächsten Kreuzung.
Und dort sagte Kai, bevor wir uns voneinander trennten: »Nee, Mann, das glaubt uns keiner! Meine Fresse, echt.«
20
Viktor ging wieder zur Schule. Weder die Brüder noch sonst irgendwer schenkten ihm große Beachtung.
Es geschah wenig. Die Hitze nahm ab. Franco erschien eines Tages mit Glatze. Tina verzog den Mund, als fände sie ihn lächerlich. Viktor begann während der Pausen wieder seine Runden zu laufen.
Sürel trainierte. Ayfer und ich saßen nur nebeneinander. Viktor fing an, sich im Unterricht unablässig zu melden. Die Brüder, vor allem Eberhard, strengten sich ebenfalls an. Oft vergeblich. Einige Lehrer halfen ihnen, andere nicht.
Doch immer, wenn Karl-Heinz oder Eberhard eine falsche Antwort gaben, wirkten ihre schweren Körper plump und beide saßen, verletzt in ihrem Stolz, verloren da.
Manchmal schien es mir, als ob Viktor genau beobachten würde, wie sie sich mühten. Als ob er sich merkte, wie oft sie mit einer Antwort ganz besonders dumm aussahen.
Hin und wieder meinte ich auch zu erkennen, wie er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, als sei er nun zufrieden. Jedes Mal glaubte ich, wenn ich ihn so sitzen sah, dass sein Vater durch die Klotür etwas von »sich wehren« gesagt hatte.
Ich fragte Ayfer. Ihr fiel nichts auf. Und Maren Schubert redete eines Morgens im September davon, dass wir einen Klassensprecher bräuchten.
Sie sah uns an, während wir schwiegen. Sie wirkte plötzlich feierlich. Dann hielt sie uns noch einen Vortrag über Demokratie und weshalb so etwas auch für uns gut sei. Den meisten in der Klasse dürfte das zu diesem Zeitpunkt egal gewesen sein.
Und warum Viktor sich nur kurze Zeit danach entschloss etwas zu unternehmen, die Brüder nicht nur zu ertragen, sondern zu handeln, ist mir auch später niemals klar geworden.
Vielleicht war das Zusammentreffen aber bloß Zufall.
Die erste Stunde. Mathematik. Pythagoras. Karl-Heinz war aufgerufen worden. Er stand, ein Kloß in Bomberjacke, gebückt vorn an der Tafel, als würde die Klasse im Rücken ihn hetzen.
Man sah, wie sich die Hände hektisch gegenseitig wrangen, sah, wie die Finger ein Stück Kreide zu feinem weißen Staub zermahlten. Die Springerstiefel scharrten am Linoleum. Die Nägel gruben sich ins Fleisch. Er setzte an, er sagte leise: »Denn das Quadrat der Hyto…«
» Über der Hypotenuse«, verbesserte ihn unser Lehrer.
Karl-Heinz’ Kopf nickte. Der Hals verkrampfte sich. »Ist gleich der Summe der Katheter.«
»Katheder?«, murmelte der Lehrer. Er wirkte hinter seiner Brille, als sei er endgültig verwirrt.
»Quadrate der Katheter«, grunzte Karl-Heinz gepresst. Noch wagte niemand in die Stille hinein zu lachen. Erst als Viktor mit scharfer, klirrender Stimme und einem hämischen Tonfall, den keiner ihm zugetraut hätte, dazwischenfuhr und zischelte: »Es heißt Katheten – den Katheter steckst du dir, um zu scheißen, vielleicht in den Hintern!«, begannen einige zu grinsen.
Viktor lachte laut und schrill. Seine Stimme vibrierte ein wenig, als er weitersprach: »Oder auch, weil es klüger ist, gleich direkt in dein Hirn, wo die Scheiße brodelt.« Zunächst herrschte
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