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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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unsichtbare Spannung. Und jeder von uns sah sich bei allem, was er tat, besonders vor.
    Viktor war für ein paar Tage nicht zum Unterricht erschienen. Die Brüder gingen ihrer Wege. Franco folgte ihnen wie ein Hund. Einige aus unserer Klasse schlossen sich den Brüdern an. Vielleicht nur, weil die Brüder größer waren und stärker als die meisten.
    Abgesehen von Viktor war Tina die Einzige, für die sich nach dem Vorlesen des Briefs etwas geändert hatte. Sie wirkte nachdenklich und einmal sagte sie unverhofft zu Lisa: »Ich hätte ihnen von dem Brief nichts sagen sollen, nie.«
    Sie traf sich sogar nachmittags mit Lisa, um mit ihr zu reden. Doch während sie im Park spazieren gingen, kam zuerst Kai und später Eberhard dazu. Deshalb sprachen Tina und Lisa kaum von Viktor. Und als Eberhard erschien, redeten sie gar nicht mehr, sondern liefen schweigend nebeneinanderher.
    Kai erzählte es mir schon am nächsten Tag. Er war erstaunt, dass Eberhard Tina nachmittags im Park traf, ohne dass sein Bruder oder Franco mitgekommen waren. Ich wunderte mich weniger, denn ich hatte die vier im Kleingarten beobachtet – mich hatte Eberhard vor der Tür der Laube überrascht. Und mir hatte er zugenickt, bevor ich mich verdrückt hatte. Mich verblüffte es kein bisschen, dass er sich mit Tina verabredete ohne seinen Bruder.
    Manchmal dachte ich auch, dass es nur ihm zu verdanken sei, dass mich Franco und die Brüder vollkommen in Ruhe ließen, obwohl ich von ihnen nichts mehr wissen wollte und mich sogar mit Ayfer wieder traf. Aber wahrscheinlich war es bloß wie immer: Man übersah mich. Für die andern war ich einfach nicht vorhanden. Und seit ich neben Ayfer saß und nicht mehr mit ihnen Billard spielen ging, wurde ich wieder ein Schatten, wie vorher. Es war nicht mal Absicht. Nein, sie vergaßen mich.
    Nur Franco wollte ganz bewusst nichts mehr von mir wissen. Er hatte sich entschlossen, die Brüder toll zu finden, mich bescheuert.
    Der Einzige, der unbeirrt das tat, was er sich vorgenommen hatte, war Sürel. Obwohl er nach wie vor beim Laufen fast zu fallen schien, trainierte er inzwischen jeden zweiten Tag Kung-Fu oder Karate.
    Ayfer und ich besuchten ihn einmal in seinem Dojo, in dem das Training stattfand. Man durfte diesen Dojo nur betreten, wenn man die Schuhe vorher auszog. Und ehe Sürel und die andern mit einer Dehnübung begannen, mussten sie erst den Boden wischen. Danach saßen sie fast fünf Minuten auf ihren nackten Hacken, niemand sprach.
    Später taten sie so, als würden sie wirklich miteinander kämpfen, einige traten gegen einen Sandsack. Und obwohl der Meister – so nannte Sürel seinen Trainer – am Anfang der Stunde davon geredet hatte, dass Karate und Kung-Fu nicht zum Angriff dienen sollten, konnte man an den Gesichtern der gegen die Sandsäcke springenden Karatekämpfer ablesen, wofür sie all das taten.
    Es waren fast ausschließlich Türken. Als wir den Dojo nach kurzer Zeit wieder verließen, fragte ich Ayfer, ob sie das alles nicht auch ein bisschen albern fände.
    Aber sie erwiderte, während uns der Schweißgeruch zu verfolgen schien, dass ich ganz einfach allgemein von Sport nichts verstünde, weil ich nichts davon hielt. Sie hatte Recht.
    Als wir aus der Haustür traten, hatte es gewittert. Dennoch war die Luft nicht kühl, sondern feucht und drückend.
    Wir liefen über einen Hof. Ich betrachtete Ayfer, die ein Stück vor mir ging. Schlank und federnd sprang sie über eine Pfütze. Früher waren die Etagen Teil einer Fabrik gewesen. Jetzt stand mehr als die Hälfte leer. Ich dachte: Schön, dass ich mit Ayfer einen Nachmittag allein bin.
    Doch vor Ayfers Obstgeschäft warteten bereits Kai und Lisa. »Wo seid ihr gewesen? Wir haben euch schon überall gesucht.«
    »Wir waren bei Sürel«, sagte Ayfer. »In seinem Dojo. Beim Karate.«
    Ich stand reglos da und dachte: Jetzt ist der Nachmittag allein mit Ayfer wohl vorbei.
    »Gut, dass wir euch gefunden haben«, meinten Kai und Lisa.
    Neben ihnen saß in einem Auto, dessen Verdeck zurückgeklappt war, ein Mann mit silbergrauem Haar und einer Goldrandbrille. Auf der Motorhaube sah man noch die letzten Regentropfen.
    »Das ist der Vater«, sagte Kai.
    »Welcher Vater?«, fragte Ayfer.
    »Der von Viktor«, sagte Lisa. Leise fügte sie hinzu: »Der, der immer so viel reist.«
    Er hatte uns die Hand gereicht, als sei er – fast so wie Viktor – ein Mann, der Kutschenschläge öffnet. Wir waren bei ihm eingestiegen, weil Kai und Lisa meinten:

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