Wer sich nicht wehrt
einem Klebestreifen notdürftig zusammenflicken konnte: Es macht keinen Sinn, Leukoplast auf ein Brillenglas zu kleben, und sogar durch Tesafilm sieht man nur sehr wenig.
Außerdem brach sich Kai bei seinem Sturz den Arm. Und am nächsten Tag erschien er, den Arm bis zum Ellenbogen in Gips. Den Gips behielt er eine Woche. Alle durften ihren Namen auf die weiße Fläche schreiben. Bis auf Lisa. Denn mit Lisa hatte er sich, ehe er mit dem Rad vom Bordstein kippte, eine Stunde lang gestritten. Sie hatte darauf beharrt, dass Viktor bloß ein bisschen seltsam sei. Kai hatte gesagt: »Er ist ein Feigling.«
Das war auch die Meinung der meisten andern in der Klasse. Der Einzige, der – bis auf Ayfer – unerwartet etwas anderes vertrat, war nach Viktors unverhofftem Rücktritt Sürel. Was er sagte, klang für uns alle rätselhaft: »Viktor folgt der Lehre von dem Zen.«
Ich dachte zuerst, Zen wäre nur ein Wort auf Türkisch. Dann fiel mir ein, dass der Meister, der im Dojo Kung-Fu lehrte, einen Bademantel trug, auf dem stand ZEN geschrieben.
Typisch für Sürel, dachte ich. Alles, was sein Meister labert, ist für ihn gleich Weisheit, wahrscheinlich sogar großartig und wahr. Doch obwohl ich nicht genau wusste, was mit Zen gemeint war, war ich mir sicher, dass Viktor keiner Lehre folgte.
Denn weil die Brüder in der Schule fehlten und weil zunächst noch nichts geschah, das groß und ungewöhnlich war, konnte ich Viktor, ohne dass mich etwas ablenkte, genau beobachten – und mir im Heft dazu Notizen machen.
Viktor hatte, als er von Gewalt erzählte und die Wahl zum Klassensprecher trotz des Jubels einfach ausschlug, nicht begriffen, dass man einen Gegner – dem man schon die Stirn geboten, dem man sogar Tränengas ins Gesicht gesprüht hat – auch noch niederschlagen muss. Schließlich ist es besser, zu wissen, dass der Gegner nicht mehr aufsteht, wenn er einmal unten liegt. Dann hat man ein für alle Mal gezeigt, dass man es ernst meint. Sonst, das denken alle, zeigt man seine Angst.
Aber Viktor kapierte das nicht. Er glaubte an eine Welt ohne Gewalt. Ein hübscher Traum – der sogar stimmt, sobald sämtliche Türen von Porzellangeparden bewacht sind, dachte ich. Aber bei uns gab’s so was nicht. Bei uns gab’s nur die Brüder und den Rest der Klasse, Franco, Ayfer, Sürel, Tina, Lisa, Kai und mich.
Für Viktor war es schlimmer geworden als in der Zeit vor der Wahl. Vorher hatte er die Hoffnung, dass ihn niemand aus der Klasse überhaupt verstand. Jetzt musste er erkennen, dass, auch wenn er allen zeigte, was er für richtig hielt, keiner von den andern seiner Meinung war oder ihn auch nur verstehen wollte.
Im Gegenteil, die allermeisten hielten ihn für einen Schwätzer, einen feigen Wichtigtuer, der nicht nur Angst hatte, sondern auch noch dummes Zeug erzählte, um von seiner Angst abzulenken. Trotzdem lief er weiter seine Runden. Manchmal lief Tina neben ihm, sie bot ihm, weil sie Mitleid hatte, Kaugummi an oder Lakritz. Viktor schüttelte den Kopf und lehnte alles ab, was sie ihm geben wollte. Sie gab es auf. Er lief allein. Es sah so aus, als ginge nur noch eine Hülle, Viktors Haut, über den Hof. Als kreise nur ein Ständer um den Schulhof, auf dem noch etwas Kleidung hing – Hose, eine Regenjacke, Schuhe und ein Hemd mit steifem Kragen.
Und noch bevor die Brüder zum Unterricht zurückkamen, tat Viktor etwas, das mich nicht besonders überraschte. Obwohl ich glaube, dass sonst niemand mit so etwas rechnete.
25
Die letzte große Pause. Ein grauer, kühler Nachmittag. Vereinzelt trieben braune Blätter über den Beton.
Es nieselte. Viktor lief, und das war für ihn typisch, mit einem roten Regenschirm die gewohnten Runden auf dem Schulhof. Niemand sonst war auf der weiten Fläche zu sehen – außer Ayfer. Sie hatte als Klassensprecherin noch irgendetwas außerhalb der Schule zu erledigen. Sie nahm die neue Aufgabe sehr ernst und einige in unsrer Klasse begannen schon zu tuscheln und meinten, Ayfer würde so tun, als sei sie ganz besonders wichtig, ihr Amt noch viel wichtiger. Einige kicherten nur versteckt hinter ihrem Rücken, weil sie das eifrige Getue von Ayfer albern fanden, genauso wie das Verhalten Viktors.
Ich musste manchmal auch ein bisschen lachen. Aber weil ich Ayfer mochte, wurde mir im Bauch auch warm, wenn ich sah, wie ihr Gesicht röter wurde, richtig hitzig, weil sie gegenüber der Schulleitung etwas vorzubringen hatte, sich für etwas einsetzte: Kaffeeautomaten oder
Weitere Kostenlose Bücher