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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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Klasse schwieg. Man wartete. Ich wusste, dass sich Viktor erst würde bitten lassen wollen. Ich wusste auch, dass keiner ihn verstand.
    Bis auf Ayfer. Ayfer schnaufte. Holte Luft und fuhr ihn an: »So einfach, du Klugscheißer, kannst du’s dir nicht machen!«
    Und während sie vor Wut fast platzte und während Maren Schubert sagte: »Begründen solltest du es schon«, und während Kai zu Lisa meinte: »Kneif mich mal, ich glaub, ich träume!«, und während Sürel knurrte: »Entweder Blödkopp oder Feigling – eben ein Kartoffelfresser!«, grummelte Viktor: »Wart es ab …!«
    Dann kletterte er tatsächlich auf einen Stuhl und sagte, wobei er sich vorsichtig auf die Lehne setzte, um nicht nach hinten umzufallen: »Es gab zu viel Gewalt vor dieser Wahl.«
    In diesem Augenblick fiel mir das Wort ein, das den Ausdruck seines Mundes ganz genau bezeichnete: blasiert. Das hatte meine Mutter einmal über einen Cocktailgast gesagt.
    Ayfer knurrte: »Vollidiot.«
    Viktor war es gleichgültig. Er erklärte unbewegt auf seiner Lehne, warum man kein Tränengas in Gesichter sprühen soll, warum man sich nicht schlägt und wieso eine Wahl wie diese einer Wahl nicht würdig ist.
    Ich dachte, dass es einen Spruch gibt, der wirklich gut zu Viktor passte: der, der zu den Vögeln redet, weil andere ihm nicht zuhören. Viktor wirkte so, als wolle er der Klasse etwas demonstrieren, indem er von der Wahl sofort zurücktrat.
    Als sei Viktor ein Lehrer, der Kindern etwas zeigen muss. Deshalb lachte Ayfer. Danach lachte ich.

24
    Für mich hatte sich nach der Klassensprecherwahl einiges geändert. Obwohl ich erst nicht wusste, ob das, was nun mit mir geschah, gut war oder schlecht, hatte ich den Vorschlag, mich als Ayfers Stellvertreter aufstellen zu lassen, angenommen.
    Sie, die eigentliche Stellvertreterin, war, weil Viktor nach der Wahl gekniffen hatte, jetzt die Klassensprecherin. Ich, den eigentlich noch nie wirklich jemand ernst genommen hatte, war plötzlich ihr Stellvertreter, zweiter Klassensprecher der 9b.
    Zunächst dachte ich, dass ich das unmöglich würde schaffen können, weil ich so wenig redete, ein echter Klassensprecher aber unablässig reden muss. Viel schlimmer noch: Er muss auch handeln, muss, wenn etwas schwierig wird, besonders geistesgegenwärtig sein. Gerade darin lag nicht meine Stärke: Wenn etwas komplizierter wurde, war ich nicht nur langsam, sondern wie gelähmt. Deshalb hätte ich das Amt so wie Viktor ablehnen sollen. Ich hätte sagen müssen: Nein, so was kann ich nicht. Aber es gab drei Gründe, die für das Amt gesprochen hatten: Ayfer, die mich darum bat, Viktor, der ihr dadurch nicht mehr nah sein konnte, und der Umstand, dass ich etwas hätte sagen müssen, wenn ich, ebenso wie Viktor, gleich zurückgetreten wäre. Reden, wie gesagt, das fiel mir schwer.
    Es gab noch einen vierten Grund. Und dieser Grund ist schwierig zu erklären.
    Ich dachte, als mich Ayfer unvermutet vorgeschlagen hatte und ich plötzlich vor der Klasse und vor der Entscheidung stand, Ja zu sagen oder Nein: Nur, wenn ich jetzt nicke, bekomme ich die Möglichkeit, mich zu ändern. Und obwohl ich nicht mal ahnte, wie ich’s schaffen würde, wusste ich: Ein Nein verhindert alles, jede Chance, für lange Zeit. Also nickte ich, auch wenn die Klasse nicht besonders heftig klatschte. Und als Franco sogar pfiff, nickte ich noch einmal.
    Trotzdem schlich ich auf dem Heimweg zaghaft und zunehmend langsamer an den letzten Häuserblöcken vorbei. Denn ich glaubte, wenn ich meiner Mutter von dem neuen Amt erzählen würde, wäre die Entscheidung endgültig gefallen.
    Als ich dann vor unserer Haustür stehen blieb, so lange, bis mein Bruder mit Blumenerde nach mir warf, fiel mir ein, was ich machen könnte, um besser zurechtzukommen, um den Überblick zu haben über alles, was geschah. Ich würde ein Notizheft führen und darin aufschreiben, wie sich die Einzelnen verhielten: die Brüder, Ayfer, Viktor, Sürel und Franco, vielleicht Tina, der Rest der Klasse, Kai und Lisa und sogar Maren Schubert, eben alle.
    Deshalb drehte ich mich um, lief, ohne darauf achtzugeben, dass mein Bruder nach mir rief, über die Straße zum Zeitungsgeschäft und kaufte mir ein Schreibheft ohne Linien.
    Linien, das ist eigenartig, hindern mich ordentlich zu schreiben. Außerdem zerstören sie die reine, weiße Fläche.
    Während ich das Geld umständlich auf den Tresen zählte, hatte ich das Gefühl, als würde nun, da ich das neue Heft in den Händen hielt, alles

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