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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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in unserer Klasse auf eine Entscheidung zulaufen – ohne dass ich genau verstand, worin diese Entscheidung bestehen könnte. Noch bevor ich den Laden verließ, schrieb ich deshalb auf mein Heft, das sich neu und glatt anfasste: Wichtige Notizen. Ich riegelte zu Hause die Tür meines Zimmers ab, damit mein Bruder draußen blieb, setzte mich an meinen Schreibtisch, klappte das Heft auf und begann, während ich am Kugelschreiber kaute und dabei mein Kinn aufstützte, nachzudenken, was mir an Karl-Heinz und Eberhard und vor allem an Franco nicht gefiel.
    Meine Mutter rief nach meinem Bruder und mir, denn es gab Essen. Aber weil mir gerade der wichtigste Grund von allen eingefallen war, achtete ich nicht darauf, sondern fing an zu schreiben: Viktor kennt zwar nicht die Regeln, die man einfach kennen muss, aber die Brüder und Franco sind schlimmer. Weil sie, gerade wenn jemand schon vor ihnen wimmert, noch einmal zuschlagen würden. Und zwar, um ihm zu zeigen, dass sie ihn, weil er winselt, verachten. Sie haben damit Recht, das ist schon richtig. Aber wer, weil er Recht hat, sich sein Recht auch unbedingt nehmen möchte, hat dadurch nicht mehr Recht.
    Das klang zwar kompliziert, aber so war es. Und während meine Mutter gegen die Zimmertür klopfte, stand ich zufrieden auf und las, ehe ich zum Essen ging, noch einmal die Aufschrift auf dem neuen Heft: Wichtige Notizen. Ich war, als ich die Zimmertür entriegelte, viel ruhiger als vorher in der Schule.
    Das Erste, was mir in den Tagen danach besonders auffiel, war das Klima in der Klasse. Ich hatte den Eindruck, dass die Schüler sich umkreisten. So, als würden Tiere lauern. Manchmal dachte ich, es käme bald zu einer Explosion. Auch die andern schienen die Anspannung zu spüren. Die Einzige, die davon keine Notiz nahm, war Frau Schubert.
    Manchmal fragte ich mich, ob sie so dumm war, ob vielleicht Lehrer mit der Zeit immer etwas dümmer werden, oder ob sie nur so tat, weil ihr alles viel zu kompliziert war. Auf jeden Fall nahm sie nicht wahr, was wirklich um sie her geschah, möglicherweise auch, weil erst gar nichts Sichtbares passierte.
    Die Brüder waren die ersten Tage nach der Klassensprecherwahl nicht in der Schule. Vielleicht, weil sie beleidigt waren. Aber weil sie häufig fehlten, fiel es kaum auf.
    Franco kam dennoch, trug seine Glatze, als würde er sie jeden Tag morgens vorm Spiegel noch polieren. Auch was Hose, Jacke, Stiefel anging, ahmte er die Brüder nicht nur nach, er übertraf sie.
    Zuerst verstand ich nicht, weshalb er zum Unterricht erschien. Ich dachte, dass sein Vater ihm vielleicht die Entschuldigung verweigert hatte. Doch dann begriff ich, dass er sich, weil Eberhard nicht da war, traute, Tina anzusprechen. Manchmal fasste er sie sogar an.
    Nicht dass er sie betatschte, aber er hielt sie hin und wieder am Arm fest, kam mit seinem Mund Tinas Lippen viel zu nah, sobald er mit ihr sprach, schlug ihr häufig auf die Schultern oder klopfte ihr, ein Klaps, auf den Hintern.
    Sie versuchte gleichgültig darüber hinwegzusehen, aber als er sie von hinten kurzerhand umfasste, konnte sie nicht länger so tun, als sei er nichts als leere Luft für sie, bloß ein blöder Typ, der ihr vom Baugerüst aus hinterherpfeift.
    Vielleicht dachte er, sie sei nach der Wahl noch immer dankbar oder habe sich gefreut, weil er sie zur Stellvertreterin hatte machen wollen. Jemand mit mehr Feingefühl als Franco hätte sicherlich gespürt, dass das purer Unsinn war, einfach Quatsch. Doch Franco merkte nichts mehr, weil er außer Franco – und vielleicht den Brüdern – niemanden mehr ernst nahm.
    Tina versuchte seine Arme von sich abzuschütteln. Doch er hielt sie fest und ließ sie zappeln. Bis sie ihm in die Finger biss und danach eine scheuerte, während Franco lachte: »He, du magst das doch!«
    Als er wieder vor ihr stand, bei ihr Zigaretten schlauchte und dabei zu dicht an sie herantrat, zischte Tina: »Hier! Aber danach haust du ab …! Oder ich steck Eberhard, was du für ein Arsch bist!«
    Franco wurde bleich und schlich – ohne Zigarette – mit gesenktem Kopf davon. Und es klang nicht überzeugend, als er böse wisperte: »Wird für dich gesünder sein, wenn du dein Maul hältst.«
    Solche kleinen Zwischenfälle schienen mir im Nachhinein wie eine Vorahnung zu sein von dem, was später dann geschah und was man damals noch nicht wusste.
    Kai stürzte mit dem Rad an einem Bordstein, sodass die geklebte Brille endgültig zerbrach und man sie nicht mal mehr mit

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