Wer sich nicht wehrt
Klassenzimmer suchte Maren Schubert gerade nach einem Schwamm, um das, was an der Tafel stand, schnell abzuwischen.
IHR SOLLTET , stand dort, FRANCO WÄHLEN ! IHR WISST , WESHALB ! Alles dreimal unterstrichen.
Weil kein Schwamm da war, rieb sie mit einem Tempotuch über das Geschriebene. Und sagte, während sie die Kreide ungeschickt verschmierte: »Nehmt es einfach nur als Wahlspot.« Dabei sollte ihre Stimme fröhlich klingen. Aber das misslang diesmal sogar ihr. Wahrscheinlich, dachte ich und setzte mich hastig neben Ayfer in die Bank, wahrscheinlich, weil Wahlen für Maren Schubert heilig sind.
Ich schaute mich schnell um und sah, dass Franco schon auf seinem Platz saß. Sürel und Viktor kamen gerade erst durch die Tür. Viktor hatte sich das Blut noch rasch aus dem Gesicht gewaschen. Als das Tempotuch voll buntem Staub war und man sah, dass unter der Kreideschicht noch mal derselbe Satz stand, diesmal mit Öl geschrieben, sagte Maren Schubert: »Mist!«
Einen derartigen Ausdruck benutzte sie sonst nie. Ich staunte. Sie hängte eine Asienkarte vor die Tafel, knurrte: »Gut, dass jetzt endlich alle da sind. Hammelsprung! Ich habe euch das schon erklärt.«
Und während wir uns wunderten, wie Maren Schubert unerwartet grimmig in die Klasse guckte, fauchte sie: »Franco nach rechts, Viktor auf die andere Seite! Jeder geht zu seinem Kandidaten!«
Erst geschah nichts. Nur Franco stand, wie Viktor heftig atmend, auf und trabte in seine Ecke.
Obwohl es erst so aussah, als müsse Viktor noch was sagen, erhob er sich kurz nach Franco, ging nach vorn, und beide warteten nun stumm und mit gesenktem Kopf vor dem Rest der Klasse.
Die Schüler, die zu Franco gingen, entschieden sich sehr schnell. Es waren sechs. Mit Tina sieben. Die Brüder schienen nicht zu kommen.
Auch Ayfer, Sürel, Kai und Lisa standen rasch auf und stellten sich zu Viktor.
Tina hatte zunächst gezögert. Aber wahrscheinlich hatte sie sich überlegt, dass es für eine Stellvertreterin doch recht eigenartig sei, sich zu enthalten oder sich sogar für den Gegner zu entscheiden.
Alle andern blieben erst mal sitzen.
Sie zögerten und ihre Augen erzählten von der Ungewissheit, von ihrer wachsenden Angst vor Franco und den Brüdern, der Furcht um ihre neuen Jacken, die ihnen manchmal abgenommen wurden, dem Wissen darum, dass die Brüder von einigen in den unteren Klassen schon Geld erpresst hatten.
Ich vergaß aufzustehen, weil ich wie betäubt bin, wenn alles um mich herum anfängt sich zu überstürzen.
Außerdem musste ich an Eberhards Blicke denken, als er von seinem Vater gesprochen hatte und auch als sein Bruder von Viktor blamiert worden war.
Ayfer zischte. Ich erschrak. Sah mich in der Klasse um. Und erhob mich langsam.
Während ich nach vorn zu Viktors Ecke trottete, hörte ich hinter mir das Scharren zurückgeschobener Stühle und ein Geräusch, als ob ein Schlüsselbund in einer Hosentasche an eine Tischkante stößt.
Ich musste mich nicht umsehen, um zu wissen: Die andern aus der Klasse folgten mir.
Viktor gewann mit großem Vorsprung. Die Klasse klatschte, bis auf sieben. Denn sogar Tina, das war seltsam, klatschte, als Maren Schubert das Endergebnis anschrieb, leise mit.
Vielleicht war es nur Einbildung, dass viele sich vor Franco und den Brüdern fürchteten, kann sein. Vielleicht war der Jubel nur Jubel um des Jubels willen. Weil alle feiern, freut man sich.
Es feierten für einige Minuten tatsächlich alle, bis auf jene sieben.
Und während alle lachten und manche riefen: »Klasse, Viktor!«, und während Ayfer ihn umarmte und ich das übertrieben fand, und während Kai und Lisa im großen Durcheinander die Chance nutzten zu knutschen, und während Sürel abseits stand, wie immer ohne Regung im etwas hölzernen Gesicht, fragte Maren Schubert Viktor, ob er die Wahl auch annähme.
Und Viktor sagte: »Nein.« Doch weil Maren Schubert nicht damit gerechnet hatte, gratulierte sie ihm trotzdem. Und erst als sie seine Hand zu lange geschüttelt hatte, denn das Nein war nur langsam bis in ihren Kopf gedrungen, wurde es im Klassenzimmer still.
Wir schauten uns verwundert an und setzten uns erschrocken auf die Tische.
Dann fragte Maren Schubert Viktor, weshalb er nicht Klassensprecher der 9b werden wolle, obwohl er sich doch gestern erst habe aufstellen lassen.
Er sagte: »Hm.« Erhob sich dann. Zuckte die Schultern. Lächelte. Und sagte: »Das war gestern.«
Ich dachte: Er ist tatsächlich ein überhebliches Arschloch. Die
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