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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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ein, dass Viktor seit der nächtlichen Begegnung in der Gartenkolonie sehr dünn geworden war, fast schon mager.
    Er ließ sich nicht nur beim Gehen nachlässig nach vorne hängen, er hatte in der Zeit bei uns tatsächlich abgenommen.
    Und während ich mir überlegte, wie lange er es noch in unsrer Klasse aushalten würde, wenn die Brüder zurück zur Schule kämen, schrieb ich in das weiße Heft – weil ich das gerade erst in einem Buch gelesen hatte: Der Verfall ist deutlich.

26
    Die Brüder kamen vierzehn Tage, bevor die Herbstferien begannen, wieder zum Unterricht. Sie hatten vier Tage gefehlt. Ich dachte daran, wie viel sich in vier Tagen verändern konnte.
    Der Tag, an dem die Brüder den Schulhof kurz vor acht betraten, war sonnig. Der Oktober lag wie ein unsichtbarer Rauch über den teils schon kahlen Ästen. Man konnte, wenn man vorsichtig die Luft bis in die Lunge sog, den rauchigen Geruch des Herbstes schmecken.
    Franco und drei seiner Kumpane hatten sich vorn beim Schulhoftor am Zaun neben dem Fußballfeld aufgebaut. So, als hätten sie sich verpflichtet, dort die Brüder bei deren Rückkehr zu begrüßen. Man hieb sich auf die breiten Schultern und grunzte ohne seine Lippen sonderlich weit zu öffnen: »Schön, dass du wieder da bist, Alter, echt!«
    Und während sie so standen, hatte ich den Eindruck, als ob sich Eberhard zwischen den fünf anderen fast verloren vorkam. Er wirkte so, als wäre er allein.
    Ein paar Tage später konnte man Eberhard und Tina sehen, wie sie nach der Schule Arm in Arm nach Hause gingen – zu ihr nach Hause, dachte ich, sicher nicht zu ihm.
    Eigentlich hatten wir erwartet, dass die Brüder, wenn sie in die Schule kämen, etwas gegen uns, Sürel, mich und Ayfer, unternehmen würden. Wir dachten, Viktor wäre ihnen egal, weil er zurückgetreten war. Wir dachten, dass sie sich an uns für ihre Schlappe rächen wollten. Doch wie so häufig bei den Brüdern hatten wir uns wieder mal getäuscht.
    Eberhard tat nichts. Er stand nur während der Pausen neben Tina auf dem Schulhof. Manchmal knutschten sie und manchmal rauchten sie gemeinsam eine Zigarette, immer abwechselnd. Sie standen dort, wo Kai und Lisa, ebenfalls nah beieinander, schon seit vier Wochen jede große Pause standen, meist umarmt. Und mit den Lippen formten sie gespitzte Münder, um wie ein Vogel mit dem Schnabel zärtlich nach der Nase des anderen zu picken. Sie lehnten friedlich aneinander und knabberten an Ohren, Wangen, Mündern.
    Auch Karl-Heinz und Franco schienen nichts zu unternehmen. Sie kümmerten sich um ihre Kumpane, verschwanden nach der Schule schnell, wenngleich nicht ganz so schnell wie Viktor.
    Er war nach seinem Antrag an Ayfer jedes Mal der Erste, der nach der Schule auf sein Rad stieg, mit gebeugten Schultern und rotem Regenschirm blicklos Richtung Park einbog und sich, so nahmen wir an, auf den Heimweg machte.
    Aber auch hierin irrten wir uns. Doch erfuhr ich das erst später, weil ich, als stellvertretender Klassensprecher ziemlich viel zu tun hatte, nachmittags vor allem, nach dem Unterricht.
    Es gab bei uns eine Art Versammlung sämtlicher Klassensprecher an der Schule. Das wusste ich erst, seit ich zweiter Klassensprecher war. Es ging dort um so wesentliche Dinge wie den Kaffeeautomaten – mit Wahltaste für Kakao, aber ohne Wegwerfbecher.
    »Wegen der Umwelt«, sagte Ayfer. Ich nickte, denn ich sprach selbst während der Versammlungen am Nachmittag nur selten.
    Das war auch gar nicht nötig, denn gleich bei der ersten Sitzung hatte Ayfer vorgeschlagen, ich solle, da ich doch so gut schreiben würde, das Sitzungsprotokoll führen. Das tat ich, während Ayfer und die andern Klassensprecher um den Kaffeeautomaten – mit Kakao oder ohne – lange diskutierten.
    Ayfer fand die Sitzungen ausgesprochen wichtig. Sie nannte das Demokratie. Ich nannte es Zeitverschwendung, aber nur für mich allein, in meinem neuen Heft.
    Ich war mir auch nicht sicher, ob ich mit der Zeitverschwendung Recht hatte. Doch war das nicht besonders wichtig. Der eigentliche Grund für mich, jedes Mal aufs Neue an der Sitzung teilzunehmen und ein Protokoll zu führen, war ja nicht die Versammlung, sondern Ayfer.
    Einiges von dem, was sie unternahm, begriff ich einfach nicht. Ich hätte verstanden, wenn sie etwas für die Türken oder für die Ausländer an der Schule eingefädelt hätte. Aber sie bestand darauf, dass während des Unterrichts alle Mädchen, nicht bloß die türkischen, bisher benachteiligt worden seien.

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