Wer stirbt, entscheidest du
hat auf Tommy geschossen, Juliana?»
«Ich. Ich habe meinen Bruder getötet. Es tut mir leid, aber ich muss sagen, ich würde es wieder tun.»
Der Damm war gebrochen. Schluchzend gestand Juliana nun auch den Rest der Geschichte. Von der ersten Nacht, in der ihr Bruder sie missbrauchte, wie er danach geweint und sie um Verzeihung gebeten hatte, dass er betrunken und nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sei. Natürlich würde er das nie wieder tun … sie solle nur ja nichts Mom und Dad sagen.
Und sie hatte ihm versprochen, das Geheimnis zu hüten, doch er vergewaltigte sie immer und immer wieder, ohne betrunken zu sein und ohne sich anschließend zu entschuldigen. Stattdessen gab er ihr die Schuld. Wenn sie sich nicht so aufreizend anziehen würde …
Daraufhin trug sie nur noch weite, hochgeschlossene Kleider, ließ die Haare unfrisiert und verzichtete auf Make-up. Vielleicht war das der Grund, warum er sie nicht mehr belästigte, doch womöglich lag es eher daran, dass er sein Studium begonnen hatte und am College jede Menge Mädchen kennenlernte. Er ließ seine Schwester in Frieden. Nur an den Wochenenden nicht.
Sie konnte sich nicht mehr auf die Schule konzentrieren und hatte immer dunkle Ränder unter den Augen, denn immer freitags, wenn Tommy nach Hause kommen würde, musste sie sich in Acht nehmen. Sie hatte ein Schloss an ihrer Zimmertür angebracht. Zwei Wochen später fand sie die Tür aufgebrochen vor.
«Tut mir schrecklich leid», hatte er später beim Abendessen gesagt. «Du hättest nicht über den Flur laufen dürfen.» Und ihre Eltern strahlten übers ganze Gesicht, weil er ihr Sohn war, der Stammhalter, den sie regelrecht anbeteten.
Eines Montags fing Juliana in der Schule an zu weinen und hörte nicht mehr auf. Tessa zog sich mit ihr in die Mädchentoilette zurück und nahm sie in den Arm, bis sie sich beruhigt hatte und zu sprechen anfing.
Die beiden legten sich einen Plan zurecht. Tessas Vater hatte eine Pistole, die sie mitzubringen versprach.
«Wird ihm gar nicht auffallen», hatte Tessa schulterzuckend gesagt. «Dürfte also ziemlich einfach sein.»
Sie verabredeten sich für Freitagabend. Tessa wollte die Nacht über bleiben und aufpassen. Wenn Tommy käme, würde Juliana die Waffe ziehen, auf ihn zielen und damit drohen, ihm die Eier wegzuschießen, falls er es noch einmal wagte, sie zu berühren.
Die beiden Mädchen probten den Showdown mehrere Male. Sie hatten ihren Spaß daran.
Arm in Arm in der Toilettenkabine kamen sie sich stark vor. Sie waren entschlossen, Tommy die Zähne zu zeigen. Er würde klein beigeben, und Juliana wäre in Sicherheit.
Ihr Vorhaben ergab Sinn.
Schon am Dienstag hatte Tessa die Waffe an sich genommen. Freitagabend ging sie damit zu Juliana.
Sie saßen auf dem Sofa, waren ein wenig nervös und starteten ihren Filmmarathon.
Irgendwann schliefen die beiden ein, Tessa auf dem Boden, Juliana auf dem Sofa. Aber dann kam Tommy nach Hause, und sie wachten auf.
Allerdings hatte er es diesmal nicht auf seine Schwester abgesehen, sondern auf Tessa, der er auf die Brüste starrte.
«Sind ja schon reif, deine Äpfelchen», sagte er und grapschte danach. Juliana zog die Pistole.
Sie richtete sie auf ihren Bruder und schrie ihn an, er solle verschwinden. Er solle sie in Ruhe lassen, sonst …
Aber Tommy lachte nur. «Was sonst ? Willst du etwa mit dem Ding da schießen? Vielleicht solltest du mal nachsehen, ob es überhaupt entsichert ist.»
Juliana ließ sich tatsächlich ablenken und schaute nach. Im selben Moment fiel Tommy über sie her. Er versuchte, ihr die Waffe zu entreißen.
Tessa schrie. Juliana schrie. Tommy knurrte, zog seiner Schwester an den Haaren und grapschte und grapschte.
Die Waffe geriet zwischen sie. Es krachte plötzlich.
Tommy taumelte zurück und starrte auf sein Bein.
«Schlampe», brüllte er. Das war das letzte Wort, das er sagte. «Schlampe», hatte er gesagt und verblutete langsam.
Juliana war in Panik geraten. Sie hatte das nicht gewollt. … Ihre Eltern, um Himmels willen, ihre Eltern …
Sie steckte der Freundin die Pistole zu. «Verschwinde damit», flehte sie. Weg, weg, weg.
Und das waren die letzten Worte gewesen, die Juliana an sie gerichtet hatte. Weg, weg, weg.
Als Tessa bei sich zu Hause ankam, war die Polizei schon bei den Howes eingetroffen. Juliana brachte es nicht fertig zuzugeben, was sie getan hatte. Sie verschwieg auch die Übergriffe ihres Bruders, denn ihre Mutter schrie wie am Spieß und ihr Vater
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