Wer stirbt, entscheidest du
Du bist heute Nachmittag einfach ein bisschen spazieren gefahren. Über freie Straßen, ohne eine Mautstelle passieren zu müssen. Du könntest überall gewesen sein. Daran werden sie sich die Zähne ausbeißen.»
Es verstand sich von selbst, dass Juliana resistent war gegen Verhöre seitens der Polizei. Den Beweis hatte sie schon vor Jahren erbracht.
«Wir sind jetzt quitt», sagte sie schließlich mit flacher Stimme. «Ruf nie wieder an.»
Ich lächelte betrübt, aber ohne Bedauern. Wir hatten zehn Jahre lang Abstand voneinander gehalten. Und dabei wäre es geblieben, wenn es diesen unseligen Samstagmorgen nicht gegeben hätte.
Blut ist dicker als Wasser. Aber wir waren ganze dicke Freundinnen gewesen, und ich hatte mich für Juliana hergegeben, ohne mir selbst einen Gefallen damit zu tun.
«Ich würde es wieder genauso machen wie damals», murmelte ich mit Blick in ihre Augen im Rückspiegel. «Du warst meine beste Freundin. Ich habe dich geliebt und würde mich heute nicht anders entscheiden.»
«Hast du sie wirklich Sophie genannt?»
«Ja.»
Juliana Sophia MacDougall, geborene Howe, hielt sich die Hand vor den Mund. Sie fing zu weinen an.
Ich warf den Matchbeutel über die Schulter und trat hinaus in die Schneenacht. Wenig später sprang der Motor an. Die Scheinwerfer leuchteten auf, und Juliana fuhr davon.
Ich steuerte auf die Werkstatt meines Vater zu. Es brannte Licht. Er wartete auf mich.
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33. Kapitel
Bobby und D.D. kehrten schweigend in die Zentrale zurück. Bobby fuhr, D.D. saß auf dem Beifahrersitz. Ihre geballten Hände lagen auf dem Schoß. Obwohl sie ihre Gedanken abzuschalten versuchte, schwirrte ihr der Kopf.
Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugemacht. Wenn man dazu auch noch die letzten Stunden hinzurechnete, die die beschissensten ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn waren, konnte es im Grunde nicht wundern, dass sie den Verstand verloren und einen verheirateten Mann geküsst hatte, der für ihre Schwangerschaft nicht verantwortlich war.
Sie lehnte die Stirn ans kalte Fenster und starrte ins dichte Schneetreiben hinaus, das Tessa Leonis Spuren verwischte, den Verkehr behinderte und die Ermittlungen weiter verkomplizierte.
Noch vom Tatort aus hatte sie ihren Vorgesetzten angerufen. Besser, dass Horgan von ihr hörte, was vorgefallen war, als von den Medien, die jederzeit mit der Nachricht herausrücken mochten. D.D. hatte eine mutmaßliche Doppelmörderin entwischen lassen, irgendwo draußen in der Wildnis, wo ihr gesamtes Team einer stümperhaft gebauten Sprengfalle auf den Leim gegangen war.
Die Bostoner Polizei würde dastehen wie ein Haufen Volltrottel. Schlimmer noch, es war damit zu rechnen, dass die für die Ergreifung flüchtiger Gewaltverbrecher zuständige Fahndungstruppe – eine der Strafvollzugsbehörde von Massachusetts unterstellte Einheit – den Fall an sich reißen würde, da sich die Suche nun über das ganze Land erstreckte. Die Bostoner Polizei wäre blamiert und hätte nicht einmal die Möglichkeit, sich zu rehabilitieren. Ein Schlamassel auf ganzer Linie. Und wer den Schaden hatte, durfte sich auf den Spott der Presse freuen mit Aufmachern wie: Mutmaßliche Doppelmörderin Tessa Leoni aus dem Gewahrsam der Bostoner Polizei geflohen …
D.D. hoffte inzwischen inständig, schwanger zu sein. Statt gefeuert zu werden, würde sie Mutterschutz beantragen können.
Sie hatte Schmerzen.
Der Kopf tat ihr weh, auch das Herz. Vor Trauer um Sophie Leoni, dieses süße Mädchen, das Besseres verdiente. Hatte es jeden Morgen sehnsüchtig die Rückkehr seiner Mommy erwartet, sie umarmt und geküsst und sich an sie geschmiegt, wenn sie ihm eine Geschichte vorlas oder sich die Hausaufgaben zeigen ließ? Wahrscheinlich, dachte D.D. So waren Kinder. Sie liebten und liebten und liebten. Aus vollem Herzen. Mit jeder Faser ihres Seins.
Doch die Erwachsenen ließen sie im Stich.
So auch die Polizei.
Ich liebe meine Tochter.
«Ich werde da vorn anhalten», sagte Bobby und setzte den rechten Blinker. «Wir brauchen was zu essen. Hast du einen besonderen Wunsch?»
D.D. schüttelte den Kopf.
«Wie wär’s mit trockenen Cornflakes? Du musst irgendwas zu dir nehmen, unterzuckert wie du bist.»
«Warum tust du das?»
«Was?»
«Dich um mich kümmern.»
Bobby warf ihr einen flüchtigen Blick zu. «Würde Alex doch auch, oder? Wenn du es denn zulassen würdest.»
Sie verzog das Gesicht. Bobby
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