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Wer stirbt, entscheidest du

Wer stirbt, entscheidest du

Titel: Wer stirbt, entscheidest du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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rechten Schulter. Das Funkgerät habe ich links an der Hüfte. Ich überzeuge mich immer davon, ob es funktioniert und ob auch die anderen Sachen in Ordnung sind: die beiden Extramagazine, der Schlagstock, das Pfefferspray, die Handschellen und der Taser. Dann stecke ich noch drei Kugelschreiber in die eingenähten Taschen am linken Hemdärmel.
    Zum Schluss setze ich meinen Hut auf, das Schmuckstück der State Trooper.
    Gewohnheitsmäßig werfe ich einen Blick in den Spiegel. Wenn ich meine Uniform trage, nehme ich automatisch Haltung an. Das Dienstkoppel hängt schwer an meiner Taille, die kugelsichere Weste plättet meine Brust und strafft die Schultern. Der Hut sitzt mir tief in der Stirn und überschattet meine Augen.
    Respekt verkörpern. Lass niemanden sehen, dass du schwitzt, Baby.
    Die Krankenschwester befreite mich aus meiner Uniform. Sie zog mir das Hemd aus, den Rollkragenpullover, die Weste, das Leibchen, den BH. Sie schnürte die Schuhe auf, streifte die Socken ab, löste das Koppel und half mir aus der Hose. Auch der Schlüpfer musste runter.
    Jedes einzelne Teil wurde entfernt, in eine Tüte gesteckt und beschriftet als Beweismittel in einem Fall, den die Bostoner Polizei aufzurollen hatte.
    Die Krankenschwester nahm mir sogar die goldenen Ohrstecker ab, meine Armbanduhr und den Ehering. Die störten nur bei der Computertomographie, sagte sie.
    Sie gab mir ein Krankenhaushemd und verzog sich mit den Beweismitteltüten und meinen persönlichen Sachen. Ich rührte mich nicht. Lag einfach nur da, verloren ohne meine Uniform und voller Scham, weil ich nackt war.
    Irgendwo draußen im Gang war ein Fernseher eingeschaltet, und ich hörte den Namen meiner Tochter. Wahrscheinlich würde nun das im vergangenen Oktober aufgenommene Schülerporträt von ihr ausgestrahlt werden. Sophie in ihrem gelben Lieblingshemdchen mit gerüschtem Halsausschnitt, die Schultern leicht versetzt und aufgeregt in die Kamera lächelnd. Es gefiel ihr, fotografiert zu werden. Besonders gespannt war sie auf dieses Foto gewesen, weil darauf ihre Zahnlücke zu sehen sein würde und die Zahnfee ihr einen Dollar hatte zukommen lassen, den sie so schnell wie möglich ausgeben wollte.
    Meine Augen brannten. Mir war elend zumute. Wegen all der Worte, die ich nicht aussprechen konnte. Wegen all der Bilder, die sich in meinem Kopf festgesetzt hatten.
    Die Schwester kehrte zurück. Sie half mir in das Nachthemd und drehte mich auf die Seite, damit sie es hinten zubinden konnte.
    Zwei Krankenpfleger kamen und brachten mich zur CT. Ich sah die Fliesen unter der Decke über mir weggleiten.
    «Schwanger?», fragte einer.
    «Was?»
    «Sind Sie schwanger?»
    «Nein.»
    «Leiden Sie unter Klaustrophobie?»
    «Nein.»
    «Dann haben Sie nichts zu befürchten.»
    Man rollte mich in einen sterilen Raum, beherrscht von einer Maschine, die wie ein riesiger Donut aussah. Die Krankenpfleger hievten mich von der Rolltrage auf einen Tisch.
    Ich solle mich nicht rühren, sagten sie und klärten mich darüber auf, dass der Donut meinen Kopf umkreisen und Schnittbilder von meinem Gehirn machen würde. In einer halben Stunde wäre es überstanden, und der Arzt hätte ein dreidimensionales Bild von meinem Kopf, das erkennen lassen würde, ob ich irgendwelche inneren Schwellungen, Läsionen oder Blutgerinnsel davongetragen hatte.
    Die Pfleger klangen so, als wäre das alles ganz einfach.
    Allein auf dem Tisch fragte ich mich, wie tief die Maschine in mich hineinblicken konnte, ob sie all das sehen würde, was ich mit geschlossenen Augen sah. Das Blut auf der Wand hinter meinem Mann und wie es langsam daran heruntersickerte. Seine aufgerissenen Augen, aus denen er auf die roten Flecken starrte, die sich auf seiner muskulösen Brust ausbreiteten.
    Brian, wie er zu Boden sackte, während ich vor ihm stand und zusah, wie das Licht aus seinen Augen schwand.
    «Ich liebe dich», hatte ich geflüstert, kurz bevor die Augen brachen. «Es tut mir leid, es tut mir leid. Ich liebe dich …»
    Mir ist jetzt elend zumute, und mir war auch zu diesem Zeitpunkt elend zumute.
    Die Maschine fing zu rotieren an. Ich schloss die Augen und gestattete mir eine letzte Erinnerung an meinen Mann. An seine letzten Worte, als er auf dem Küchenboden liegend starb.
    «Verzeih», hatte er geröchelt. Drei Kugeln steckten in seiner Brust. «Tessa … ich liebe dich … noch mehr …»

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    7. Kapitel
    Als die Leiche abtransportiert und Tessa Leoni ins Krankenhaus gebracht

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