Wer stirbt, entscheidest du
Jungs halt.› Davon hat er wahrscheinlich auch Ihre Mutter überzeugen können. Also waren Sie und Tessa auf sich allein gestellt. Zwei sechzehnjährige Mädchen gegen einen älteren Bruder, der sich nimmt, was er will. Glaubte Tessa, Ihrem Bruder mit der Waffe Angst einjagen und ihn sich so vom Hals halten zu können?»
Juliana antwortete nicht. Ihr Gesicht war jetzt aschfahl.
«Aber dann löste sich ein Schuss», fuhr D.D. im Plauderton fort. «Tommy wurde getroffen und starb. Ihre Familie brach auseinander. Und das alles nur, weil Sie und Tessa nicht wirklich wussten, was Sie da eigentlich taten. Wessen Idee war es, die Pistole mitzubringen?»
«Gehen Sie jetzt.»
«War es Ihre Idee? Die von Tessa? Was hatten Sie sich dabei gedacht?»
«Raus!»
«Ich werde herausfinden, mit wem Sie telefoniert haben, Juliana. Für mich ist das nur ein Anruf. Falls sich herausstellt, dass Tessa mit Ihnen Verbindung aufgenommen hat und Sie, Juliana, mich hinters Licht zu führen versuchen, werde ich dafür sorgen, dass auch Ihre kleine Familie auseinanderbricht. Glauben Sie mir.»
«Raus mit Ihnen!» , schrie Juliana. Der Säugling am Boden reagierte auf den hysterischen Tonfall der Mutter und fing an zu weinen.
D.D. stand auf, ohne Juliana MacDougall, ihr kreidebleiches Gesicht und den verstörten Blick aus den Augen zu lassen. Sie sah aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Sie sah aus wie eine Frau, die sich in eine zehn Jahre alte Lüge verstrickt hatte.
D.D. versuchte es ein letztes Mal: «Was ist damals passiert, Juliana? Was verschweigen Sie mir?»
«Ich habe sie geliebt», sagte die junge Frau unvermittelt. «Tessa war meine beste Freundin, und ich liebte sie. Dann starb mein Bruder, die Familie zerbrach, und alles ging den Bach runter. Das mache ich nicht noch einmal durch, weder für Tessa noch für Sie. Für nichts und niemanden auf der Welt. Was aus Tessa geworden ist, weiß ich nicht und will es auch nicht wissen. Und jetzt verlassen Sie mein Haus, Detective. Belästigen Sie mich und meine Familie nicht länger.»
Juliana hielt ihr die Tür auf. Der Säugling lag immer noch schluchzend am Boden. D.D. räumte das Feld. Die Haustür fiel hinter ihr ins Schloss und wurde – sicher ist sicher – verriegelt.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie Juliana am Fenster stehen. Sie hielt ihr Baby im Arm. Versuchte sie, das Kind zu trösten, oder ließ sie sich von ihm trösten?
Es war vielleicht einerlei.
Juliana MacDougall liebte ihren Sohn. Ihre Eltern hatten ihren Bruder geliebt. So wie Tessa Leoni ihre Tochter liebte.
Das ewig Gleiche, dachte D.D. Teile eines größeren Musters. Teile, die weder auseinanderzunehmen noch zusammenzusetzen waren.
Eltern liebten ihre Kinder. Manche Eltern taten alles, um sie zu schützen. Andere wiederum …
D.D. hatte plötzlich ein ungutes Gefühl.
Dann klingelte ihr Handy.
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19. Kapitel
Sergeant Detective D.D. Warren und Detective Bobby Dodge kamen um 11:43 Uhr. Ich hörte ihre Schritte im Flur; sie waren schnell und zielstrebig. Die wenigen Sekunden, die mir blieben, nutzte ich, um den blauen Knopf in der Schublade der Bettkonsole verschwinden zu lassen.
Meine einzige Verbindung zu Sophie.
Meine letzte unnötige Mahnung, die Spielregeln einzuhalten.
Vielleicht würde ich den Knopf irgendwann einmal zurückholen können, vielleicht – hoffentlich – zusammen mit Sophie, deren leidenschaftsloser Stoffpuppe Gertrude ein Auge fehlte, das wir dann wieder annähen könnten.
Mit sehr viel Glück.
Ich hatte mich im Krankenhausbett aufgerichtet, als der Paravent beiseitegeschoben wurde und D.D. dahinter auftauchte. Ich ahnte, was nun kommen würde, und biss mir auf die Unterlippe, um meinen Protestschrei zurückzuhalten.
«All I want for Christmas is my two front teeth, my two front teeth, my …»
Verspätet bemerkte ich, dass ich dieses Lied leise vor mich hin summte. Zum Glück hörten es die beiden Detectives nicht.
«Tessa Marie Leoni», begann D.D., und ich straffte die Schultern. «Sie stehen unter dem Verdacht, Brian Anthony Darby ermordet zu haben, und sind festgenommen. Stehen Sie bitte auf.»
Im Flur waren weitere Schritte zu hören. Vielleicht wollten sich der Staatsanwalt und sein Assistent den großen Moment nicht entgehen lassen. Möglich auch, dass irgendwelche hohen Tiere der Polizeizentrale aufmarschierten, um sich mit ins Rampenlicht zu stellen, oder auch meine Chefs der State Police, die sich noch ein bisschen
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