Wer stirbt, entscheidest du
doch als D.D. ihren Ausweis zückte, versteinerte sich ihr Gesicht.
«Sergeant Detective D.D. Warren. Ich bin von der Bostoner Polizei. Darf ich reinkommen?»
«Um was geht es?»
«Bitte.» D.D. deutete ins Haus, wo zahllose Spielsachen auf dem Boden verstreut lagen. «Es ist kalt. Ich glaube, es wäre für uns beide angenehmer, wenn wir uns drinnen unterhalten.»
Juliana presste die Lippen aufeinander, hielt aber dann die Tür auf, um D.D. eintreten zu lassen. Der schmale, geflieste Flur führte in ein kleines Wohnzimmer mit schmucken Fenstern und einem offenbar erst vor kurzem gelegten Holzfußboden. Es roch nach frischer Farbe und Babypuder, kurz, nach einer jungen kleinen Familie, die sich häuslich einzurichten versuchte.
Das dunkelgrüne Sofa wurde von einem vollen Wäschekorb in Beschlag genommen. Juliana errötete und stellte ihn auf den Boden, ohne den Säugling vom Arm zu lassen. Dann nahm sie auf der vorderen Polsterkante Platz und hob das Kind wie zum eigenen Schutz vor sich auf den Schoß.
D.D. setzte sich unaufgefordert auf die andere Sofaseite und betrachtete den sabbernden Säugling, der seinerseits sie anstarrte, sein Fäustchen in den Mund steckte und ein Geräusch von sich gab, das wie «Gaa» klang.
«Niedlich», sagte D.D. mit unpassender Mimik. «Wie alt?»
«Neun Monate.»
«Junge oder Mädchen?»
«Junge. Nataniel heißt er.»
«Kann er schon laufen?»
«Er lernt gerade zu krabbeln», erklärte Juliana stolz.
«Na, mein Kleiner?» Mehr wusste D.D. dem Winzling nicht zu sagen. Himmel, wie sollte sie in die Rolle einer Mutter schlüpfen, wenn es ihr nicht einmal gelang, mit einem Kleinkind zu reden?
«Gehen Sie arbeiten?»
«Ich habe mit meinem Kind und dem Haushalt genug zu tun.»
D.D. ließ die Antwort gelten und kam zur Sache. «Sie haben bestimmt die Nachrichten verfolgt. In Allston-Brighton wird ein Kind vermisst.»
Julianas Miene blieb ausdruckslos. «Wie bitte?»
«Die Polizei sucht nach einem sechsjährigen Mädchen namens Sophie Leoni.»
Juliana schaute sie fragend an und drückte ihr Kind enger an sich. «Was hat das mit mir zu tun? Ich kenne niemanden in Allston-Brighton.»
«Wann haben Sie Tessa Leoni das letzte Mal gesehen?», fragte D.D.
Juliana reagierte sofort. Sie versteifte sich und richtete die blauen Augen auf den Boden. Vor ihren Füßen, die in Pantoffeln steckten, lag ein quadratisches Holztäfelchen, auf dem ein großes «E» und ein gezeichneter Elefant zu sehen waren. Sie hob das Täfelchen auf und reichte es dem Baby, das es sofort in den Mund zu stopfen versuchte.
«Er bekommt Zähne», murmelte sie geistesabwesend und streichelte seine mit rötlichem Flaum überzogenen Wangen. «Der Ärmste kann kaum noch schlafen und will nur noch im Arm gehalten werden. Ich weiß, alle Kinder müssen da durch, hätte aber nicht gedacht, dass das so schwer ist. Das eigene Kind so leiden zu sehen und nichts dagegen tun zu können.»
D.D. sagte nichts.
«Wenn er nachts weint, wiege ich ihn hin und her und weine mit. Auch wenn’s seltsam klingt: Das scheint ihm ein bisschen zu helfen. Offenbar möchte niemand allein weinen. Nicht einmal Babys.»
Auch dazu sagte D.D. nichts.
«O mein Gott», rief Juliana MacDougall plötzlich. «Sophie Leoni. Sophia Leoni. Tessas Tochter. Tessa hat ein kleines Mädchen. O mein Gott.»
Ebenso plötzlich verstummte Juliana wieder. Sie saß reglos da mit dem kleinen Jungen auf dem Schoß, der auf dem Täfelchen herumkaute.
«Was haben Sie damals gesehen, in jener Nacht?», fragte D.D. die junge Mutter. Deutlicher zu werden erübrigte sich. Wahrscheinlich kehrte Juliana in Gedanken immer wieder zu jener verhängnisvollen Nacht zurück.
«Nichts. Wirklich nichts. Ich war schon fast eingeschlafen, als ich ein Geräusch hörte und nach unten ging. Tessa und Tommy. Sie lag auf der Couch. Plötzlich krachte es. Tommy stand auf, machte ein paar Schritte und sackte dann zu Boden. Auch Tessa stand auf. Sie sah mich, fing an zu weinen und streckte eine Hand aus, die eine Pistole hielt. Das war das Erste, was mir auffiel. Tessa hatte eine Pistole. Alles Weitere wurde mir dann langsam klar.»
«Was haben Sie getan?»
«Das Ganze ist schon so lange her», antwortete sie leise.
D.D. wartete.
«Ich verstehe nicht. Warum stellen Sie mir diese Fragen? Jetzt? Ich habe doch schon damals der Polizei alles gesagt, was ich weiß. Und dann hieß es, der Fall sei zu den Akten gelegt worden. Tommy hatte einen schlechten Ruf. Der Detective sagte,
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