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Wer stirbt, entscheidest du

Wer stirbt, entscheidest du

Titel: Wer stirbt, entscheidest du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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die Kasse. Es würde gesammelt werden müssen, und das dauerte seine Zeit, ganz davon abgesehen, dass ich mir im Hinblick auf die erforderliche Abstimmung keine Hoffnungen zu machen brauchte.
    Kaum anzunehmen, dass sich meine Gewerkschaft lange mit einer Kollegin aufhalten würde, der vorgeworfen wurde, ihren Mann und ihre Tochter getötet zu haben. Meine tausendsechshundert Kollegen würden mit Sicherheit gegen mich stimmen.
    Ich sagte nichts und ließ mir auch nichts anmerken, denn der Schrei, der nicht herauswollte, drohte mich zu zerreißen. Ich wünschte mir den blauen Knopf herbei, denn ihn in der Hand zu halten hätte mir paradoxerweise geholfen. Der Knopf stand für Sophie, dafür, dass sie irgendwo da draußen war und nur gefunden werden musste.
    Der Gerichtsdiener kam auf mich zu, legte mir seine Hand um den Ellbogen und zerrte mich nach vorn. Ich setzte mich in Bewegung, Schritt für Schritt. Was blieb mir anderes übrig?
    Cargill ging neben mir her. «Familie?», fragte er leise.
    Ich wusste, was er meinte. Ob mich meine Familie freikaufen könne? Ich dachte an meinen Vater und spürte, wie der unterdrückte Schrei noch stärker anschwoll. Ich schüttelte den Kopf.
    «Reden Sie mit Shane. Präsentieren Sie Ihren Fall der Gewerkschaft», sagte er, ohne seine Skepsis verhehlen zu können.
    Ich erinnerte mich an meine älteren Kollegen, die meinem Blick ausgewichen waren, als ich durch den Flur des Krankenhauses geführt wurde. An diesen Spießrutenlauf. Es würde wohl nicht der letzte gewesen sein.
    «Ich könnte darauf drängen, dass Ihnen im Gefängnis Vorzüge gewährt werden», sagte Cargill schnell, denn wir näherten uns dem Gitterkäfig, in den man mich einschließen würde. «Sie sind Polizistin. Ihnen steht eine Einzelzelle zu, wenn Sie darauf bestehen.»
    Ich schüttelte den Kopf. Ich kannte das Gefängnis von Suffolk County. Der schlimmste Teil war der Trakt für Sonderverwahrung. Dort würde man mich für vierundzwanzig Stunden in einer Einzelzelle einsperren, ohne die Möglichkeit, die Bibliothek aufzusuchen, mit den anderen fernzusehen oder mir auf dem ältesten Heimtrainer der Welt die Zeit zu vertreiben. Interessant, welche Dinge mir demnächst wie Luxus vorkommen würden.
    «Gesundheitscheck», sagte er und spielte damit auf die Möglichkeit an, mich auf die Krankenstation des Gefängnisses verlegen zu lassen.
    «Nein danke», entgegnete ich in Erinnerung an meinen letzten Besuch im Gefängnis, bei dem ich an der Krankenstation vorbeigekommen war und all die Psychos hatte brüllen hören, ununterbrochen, wahrscheinlich nur, um gegen die Stimmen in ihren Köpfen anzuschreien.
    Vor dem Gitterkäfig angekommen, warf der Gefängnisdiener Cargill einen vielsagenden Blick zu. Mein Anwalt zögerte unschlüssig. Er schaute mich mitleidig an, was mir nicht gefiel, denn es hätte fast den Schrei gelöst, der mir in der Kehle steckte. Ich musste Zähne und Lippen aufeinanderpressen, um ihn zurückzuhalten.
    Ich war stark, ich war zäh. Was ich sah, hatte ich aus dieser Perspektive noch nie wahrgenommen. Normalerweise stand ich auf der anderen Seite, doch das waren nur formale Details, nichts als Details.
    Cargill ergriff meine gefesselten Hände und drückte sie.
    «Lassen Sie mich rufen, wenn was ist, Tessa», murmelte er. «Sie haben das Recht, sich jederzeit mit Ihrem Anwalt zu beraten. Lassen Sie mich rufen, und ich komme.»
    Dann war er verschwunden. Die Tür zum Käfig öffnete sich. Ich taumelte hinein, zu fünf anderen Frauen, die so bleichgesichtig und weggetreten waren wie ich. Eine zog vor meinen Augen ihren knallengen schwarzen Lackrock hoch und setzte sich auf eine Kloschüssel aus Edelstahl.
    «Was guckst du, Schlampe?», fragte sie gähnend.
    Hinter mir fiel die Gittertür ins Schloss.

    Unter «South Bay Shuffle» versteht man bei uns den Transport ins Gefängnis. Die Häftlinge nehmen Platz auf den Bänken zu beiden Seiten des Busses und werden dort miteinander «verbrezelt», das heißt, sie müssen sich beim jeweiligen Nebenmann unterhaken und Handschellen anlegen lassen. In gemischter Gesellschaft sitzen die Frauen auf der einen, die Männer auf der anderen Bank.
    Ich saß also mit den fünf Frauen auf der einen Seite, getrennt von den Männern durch eine klare Plexiglasscheibe. Die Wasserstoffblonde neben mir machte während der ganzen Fahrt anzügliche Bewegungen mit der Zunge. Der schwarze Koloss gegenüber, an die hundertfünfzig Kilo schwer und über und über tätowiert,

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