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Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater

Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater

Titel: Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bloßlegte.
    Während der ersten fünf Tage hatte Bäcker seinen Sohn mit klopfendem Herzen und angstvoller Sorge beobachtet. Wie reagierte er? Zum erstenmal sah er außer Hellersen, Buddke und Pourie, den Piloten von Papeete und dessen Familie, eine Menge Menschen mit glatten, schönen Gesichtern. Hunderte, Tausende menschlicher Gesichter, gegen die das Gesicht seines Vaters eine höllische, vernarbte, abstoßende Fratze war. Würde er beginnen, sich vor seinem Vater zu ekeln? Würde er Vergleiche ziehen? Wann würde er die natürlichste Frage stellen: »Papi, warum siehst du bloß so aus?!«
    Konnte sein kindliches Empfinden diesen schrecklichen Gegensatz zwischen seinem Vater und der anderen normalen Welt verkraften? Würde er, wie alle Kinder seines Alters, das Häßliche mit dem Bösen gleichsetzen?
    Bäcker wartete jede Stunde auf diese Reaktionen, jedesmal, wenn er Paul an die Hand nahm und wieder irgendeiner Kamera, irgendeinem Interviewer vorgeführt wurde.
    Aber der kleine Paul schwieg. Was Anne gesagt hatte, wurde Wahrheit: Für ihn war sein Vater der Größte, der Stärkste, der Schönste. Auch ohne Lider, auch mit diesen roten dicken Narben im Gesicht, auch mit dem verkürzten Bein und dem schleifenden Hinken.
    »Er ist der herrlichste Sohn, den es gibt –«, sagte Bäcker an einem Abend zu Anne, als er müde von Fragen und Antworten endlich im Bett lag. »Anne, ich danke dir für diesen Jungen.«
    Mit der Polizei gab es keine Schwierigkeiten. Nach einem Protokoll im Landeskriminalamt von Hannover und der Anerkennung der Papiere, die Bäcker in Auckland ausgestellt bekommen hatte, wurden er, Anne – als Viktoria Bäcker – und Paul wieder in die deutschen Personalakten aufgenommen. Seine Kinder Holger, Peter und Marion wurden für tot erklärt – ertrunken oder von Haien zerrissen, Opfer des Pazifiks.
    Der Weg war frei in das neue alte Leben.
    Sie fuhren nach Lübeck, ganz unauffällig und ohne Presse, wohnten in einer kleinen, stillen Pension, und Bäcker zeigte Anne seine Heimat.
    Sie war schön und kalt, ein eisiger Wind wehte über die Ostsee zur Küste, trieb den Schnee durch die Straßen und ließ die Eisschollen an der Kaimauer zersplittern.
    Sie standen in dicken pelzgefütterten Mänteln am Meer, die Arme liebend umeinander gelegt. Frierend mit frostrotem Gesicht, drückte sich der kleine Paul dazwischen. Der Himmel war grau, tief und schwer von Winterwolken.
    »Auch das ist das Meer«, sagte Bäcker und rieb Paul die roten Backen. »Hier habe ich gespielt, als ich so alt war wie du.«
    »Mein Meer ist schöner!« Der Junge fröstelte und kroch in sich zusammen. »Warum ist es hier so kalt, Papi?«
    »Hast du das gehört?« Anne lehnte den Kopf an Bäckers Schulter und lächelte. »Er sagt: ›mein Meer‹. Er ist ein Polynesier.«
    »Auch dieses Meer ist schön, Paul«, sagte Bäcker. »Jetzt treibt Eis über dem Wasser, aber wenn Sommer ist, leuchtet auch hier die Sonne, Tausende von Menschen baden in den Wellen, bauen Sandburgen, und der ganze Strand ist übersät von bunten Strandkörben und Zelten, und Fahnen flattern im warmen Wind.«
    »Aber hier gibt es keine Palmen, Papi –«
    »Nein, Palmen gibt es hier nicht.«
    »Und keinen Albatros.«
    »Auch den nicht.«
    »Und man kann nicht mit einem Speer Fische fangen.«
    »Auch das kann man nicht.«
    »Was ist denn dann schön hier, Papi?«
    »Es ist die Heimat, mein Junge. Die Heimat ist immer schön. Sie ist eigentlich von allen Ländern am schönsten.«
    Der kleine Junge starrte zu seinem Vater hinauf und schwieg. In seinen Augen aber lagen viele Fragen, doch er stellte nach einer Weile Nachdenken nur eine von ihnen: »Was ist Heimat, Papi?«
    »Das Land, in dem wir geboren sind, mein Sohn.«
    »Dann ist meine Heimat die Insel, Papi.«
    Bäcker wußte darauf keine Antwort. Fast bittend sah er Anne an. Hilf mir, hieß dieser Blick. Wenn er weiter so spricht, fange ich an zu heulen. Ich bin endlich zu Hause, wir haben alles überlebt: die Haie, die Toteninsel, die grausame Fahrt mit dem Einbaum, Pauls Geburt. Fünf Jahre wuchs er unter unseren Händen auf wie ein herrlich gerader Baum. Wir haben aus einer Hölleninsel ein Paradies gemacht … und jetzt, an einem neuen Anfang, sehnt sich dieses Kind nach Einsamkeit, nach dem brüllenden Meer, nach sengender Sonne, unendlichem Himmel und weißem Sand, nach roten Korallenbänken und schwarzen Klippen, Vogelscharen, die die Sonne verdunkeln, und Fischschwärmen, durch die man waten

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