Wer war Jesus
Gestalt, die von diesen Voraussetzungen aus betrachtet werde, sei viel logischer und
auch aus historischer Perspektive viel verständlicher als die Rekonstruktionen von historischen Forschern aus den letzten
Jahrzehnten. Gerade der Jesus der Evangelien sei eine historisch sinnvolle und stimmige Figur. Ferner erkläre sich nur unter
der Voraussetzung außerordentlicher Ereignisse a) Jesu Kreuzigung, b) Jesu Wirkung und c) die schnell folgende Aussage über
dessen Gottgleichheit.
Benedikt weist die in der Schulexegese vertretene These zurück, dass frühchristliche Gemeinden schöpferisch die älteste christliche
Lehre von Christus ausgebildet hätten, und hält es für auch »histo risch viel logischer, dass das Große am Anfang steht«, zumal sich die Gestalt Jesu nur vom Geheimnis Gottes her verstehen lasse.
Allerdings sei auch klar, dass die historische Methode gar nicht erkennen könne, dass Jesus als Mensch Gott gewesen sei. Vielmehr
müssten die Vertreter der historischen Methode lernen, die biblischen Texte mit einer inneren Offenheit für Größeres zu lesen.
Dann öffneten sie sich, und Jesus werde als glaubwürdige Gestalt sichtbar.
Der Papst stellt sein Buch als Ausdruck seines persönlichen Suchens hin – es sei kein lehramtlicher Akt –, doch erweist sein
Inhalt es als eine unverblümte Darstellung des römisch-katholischen Glaubens in historischem Gewand, bei dem die Inspiriertheit
der Schriften, die Gottheit Jesu und die Irrtumslosigkeit der Schriften vorausgesetzt werden.
Der Eindruck entsteht daher leicht, dass hier ein weiteres Mal einer konstruktiven Auseinandersetzung zwischen römisch-katholischem
Dogma und historischer Vernunft der Riegel vorgeschoben |73| worden sei. Gleichwohl bleibt ein Türspalt zwischen beiden Räumen offen. Der Papst beschneidet den Geltungsbereich der historischen
Kritik zwar erheblich. Doch bedient er sich in seinem Buch immer wieder rein historischer Argumente, die der Kontrolle offen
stehen.
Eine Überprüfung des päpstlichen Unternehmens erweist dieses schon anhand einiger Stichproben als Holzweg:
Erstens
: Angesichts der Abfassungsdaten und -verhältnisse der vier Evangelien darf man ihnen in ihrer vorliegenden Gestalt keineswegs
historisch trauen und schon gar nicht dem jüngsten, an vielen Stellen sekundären Johannesevangelium. Es ist ferner Unsinn,
die Existenz von unechten Jesusworten in den neutestamentlichen Evangelien zu bestreiten, auch wenn die Inspirationslehre
das verlangt.
Zweitens
: Frühe Christen, deren Namen wir ebenso wenig kennen wie die der vier Evangelisten, haben weite Teile des Stoffes der Evangelien
geschaffen. Erst ihre schöpferische, mit innerer Überzeugung verbundene Tätigkeit – nicht aber ein großes Ereignis am Anfang
– hilft, die rasante Ausbreitung des frühen Christentums zu verstehen, und erlaubt eine Erklärung der vielfältigen Spannungen
zwischen den Inhalten der Evangelientexte.
Drittens
: Die wissenschaftliche Jesusforschung ist zu dem Ergebnis gekommen, dass unter den überlieferten Jesusstoffen am ehesten
Gleichnisse echt sind. Gleichnisse sind auf unmittelbares Verstehen angelegt, nicht aber auf Unverständlichkeit, um andere
Menschen zu verstocken, wie das Markusevangelium behauptet (Kap. 4, Vers 12). Diese Erkenntnis ignorierend sieht Benedikt
dahinter irrtümlich das Geheimnis des Kreuzes und das Gottesgeheimnis Jesu durchschimmern, das zum Widerspruch gegen Jesus
geführt habe. Der in diesem Zusammenhang gegebene Hinweis auf die tiefste Bedeutung der Gleichnisse Jesu ist Tiefenschwindel,
weil er die auf Verständlichkeit zielende Gleichnisrede ignoriert und eine überwunden geglaubte allegorische Auslegung der
Gleichnisse wieder hoffähig macht.
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Viertens
: Jesus hat sich nicht als Gott verstanden. Als jemand ihn als »guten Lehrer« anredet und fragt, wie ewiges Leben zu erben
sei, beginnt Jesus seine Antwort mit dem Satz: »Niemand ist gut außer einem einzigen, nämlich Gott« (Markusevangelium, Kap.
10, Vers 18). Aussagen wie diese, die nicht durch theologische Exegese umgebogen werden können, behandelt der Papst nicht,
da sie seiner Grundthese offenkundig widersprechen.
Als Ganzes ist das päpstliche Jesuswerk entgegen dem Anspruch seines Verfassers kein historisches Buch, sondern eine Sammlung
von gottesdienstlichen Meditationen über die Gestalt Jesu, ergänzt um Ausflüge in die neutestamentliche Wissenschaft. Einige
dieser
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