Wer war Jesus
Meditationen grenzen sogar an Kitsch: »Was am brennenden Dornbusch in der Wüste des Sinai begann, vollendet sich am
brennenden Dornbusch des Kreuzes« (Seite 178); »Wer wachen Auges in die Geschichte blickt, der kann diesen Strom sehen, der
von Golgatha her, vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus her durch die Zeiten fließt. Er kann sehen, wie dort, wo dieser
Strom ankommt, die Erde entgiftet wird, wie fruchttragende Bäume heranwachsen, wie Leben, wirkliches Leben aus diesem Quell
der Liebe fließt, die sich geschenkt hat und schenkt« (S. 290–291).
Wäre nicht der Papst der Verfasser dieses Buches, würde es von akademischen Exegeten nicht oder doch nur als eine peinliche
Entgleisung zur Kenntnis genommen werden und in kirchlichen Buchläden bald verstauben. Da in ihm der oberste Pontifex der
römischkatholischen Kirche die Vernunft vor den Karren des Glaubens spannt, muss – auch stellvertretend für alle Katholiken,
die historisch-kritische Exegese betreiben – der intellektuelle Skandal eines solchen Vorgehens angeprangert werden.
|75| 17. Jesus von Nazareth aus der Sicht des Papstes 1
Die historische Kritik hat seit dem 18. Jahrhundert eine kopernikanische Revolution in der Jesusforschung eingeleitet. Zum
einen erkannten Exegeten den Mann aus Nazareth als Prophetengestalt des ersten Jahrhunderts, deren Gedankenwelt von jüdischen
Traditionen geprägt war. Zum anderen widerlegten Bibelkritiker die These, dass die vier Evangelisten des Neuen Testaments
Augenzeugen gewesen seien. Fortan galt das Johannesevangelium als das jüngste Evangelium, das einen nur geringen historischen
Wert besitze. Die vielfältigen wörtlichen Übereinstimmungen zwischen den anderen drei wertete die Forschung im Rahmen der
sog. Zwei-Quellen-Theorie so aus, dass Matthäus und Lukas unabhängig voneinander sowohl das Markusevangelium als auch eine
Spruchquelle (»Q«) benutzt haben. Wobei die geschichtliche Bedeutung dieser Quellen für den historischen Jesus nicht generell
feststeht, sondern jeweils von Erzählung zu Erzählung zu erweisen ist.
Benedikt XVI. kommt daher und deklariert – die reiche Forschungsgeschichte ignorierend – im Handstreich den Jesus der Evangelien
als den wirklichen Jesus, als den »historischen Jesus«. Er traut den Evangelien historisch und setzt sogar voraus, dass der
Mann aus Nazareth
sämtliche
ihm in den Evangelien zugeschriebenen Worte auch gesprochen habe. Damit führt der Papst einen Angriff auf die historisch-kritische
Bibelwissenschaft. Das schadet der Wissenschaft, und es schadet der Theologie, weil Benedikt so tut, als könne die Theologie
Antworten auf Fragen der Wissenschaft geben oder als könne man die Wissenschaft beiseite lassen, wenn sie nicht als Magd der
Theologie funktioniert.
|76| Ein bestimmtes Bild von Jesus prägt das Buch: das Bild des mit Gott wesensgleichen Sohnes, der zugleich wahrer Gott und wahrer
Mensch ist. Unbeeindruckt von historischen Einwänden stellt der Papst Jesus als einen auf Erden wandelnden Gott dar, der sich
zu Gunsten der sündigen Menschen erniedrigt und verheißen hat, die an ihn Glaubenden einst zu sich in sein Reich zu nehmen.
Dies schlägt – wie gesagt – allem ins Gesicht, was wir über den geschichtlichen Wert der Evangelien, ihre Entstehungsverhältnisse
und den historischen Jesus wissen können.
Nun wirft der Papst den Vertretern der historischen Bibelkritik ein eingeschränktes Wirklichkeitsverständnis vor. Jesus von
Nazareth sei nämlich als »der Sohn« bereits vor der Schöpfung beim Vater gewesen. In Gott selbst gebe es ewig den Dialog von
Vater und Sohn, die beide im Heiligen Geist ein und derselbe Gott seien. Dies solle man nicht mythologisch verstehen, sondern
wörtlich.
Sowohl die Geschichtlichkeit des Jesus der kanonischen Evangelien als auch die These, dass Gott sich in Jesus offenbart habe,
will Benedikt bewahren. Für ihn gibt es zwei Wirklichkeiten: die irdische – den Bereich der Historie – und die himmlische,
die dem Glauben durch Offenbarung zugänglich ist. Er befindet sich hier im Einklang mit den Theologen der alten Kirche, die
gleichzeitig physische und metaphysische, historische und metahistorische Kategorien auf Jesus von Nazareth anwandten.
Mit ihnen teilt er auch die Überzeugung, dass die Verfasser der alttestamentlichen Schriften die Geburt und das Wirken Jesu
sowie seinen Tod und seine »Auferstehung« prophezeit haben. Doch ist das nicht
Weitere Kostenlose Bücher