Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
Abenteuern teilhaben, die lieber in ihrem Lehnsessel sitzen blieben. John Gardener vertritt die These, dass in der gesamten Literatur nur zwei Geschichten erzählt werden: Entweder jemand begibt sich selbst auf eine Reise, oder ein Fremder kommt in die Stadt. Im Vergleich zu heute, wo es kaum jemanden zu Hause hält, unternahmen die Menschen im 18. Jahrhundert nur sehr wenige Reisen. Damals war allein die Fahrt zur Kirche eine Reise, und man musste lange Wege zurücklegen, um seine Waren zu verkaufen, sich mit Vorräten einzudecken und die Nachbarn oder die Familie zu besuchen. Die Menschen in ländlichen Gebieten fuhren höchstens ein- oder zweimal im Jahr in die Stadt, und Regierungsvertreter, Handwerker oder Händler waren die Einzigen, die aus geschäftlichen Gründen auf Reisen gingen. Aus reinem Vergnügen zu reisen war ein Privileg der Oberschicht. Als ich in Bolivien filmte, konnten die Einwohner den Sinn von Ferien und Urlaubsreisen nicht nachvollziehen. Ihnen leuchtete schlicht und einfach nicht ein, was es bringen sollte; für sie war es mühsam und reine Zeitverschwendung.
Reisen ist wie Verliebtsein: Man verhält sich anders als sonst und verändert seine Lebensgewohnheiten: Plötzlich ist man offener, toleranter und mutiger. Man hat weder Vergangenheit noch Zukunft, weil einen niemand kennt. Im Grunde kann man sich völlig neu erfinden. Reisen öffnet den Geist; durch Routine und Argwohn entstandene Mauern werden niedergerissen und Horizonte erweitert. Neues lässt sich am einfachsten entdecken, wenn man sich verirrt, davon habe ich schon häufig profitiert. Ein Mensch geht niemals weitere Wege als in Momenten, wenn er nicht weiß, wo er sich befindet, sagte Oliver Cromwell einst. Wanderlust ist ein wunderbares Wort, ich vermute, dass es Reiseautoren in die Wiege gelegt wurde. (Wie ich schon zuvor erwähnt habe, sollten die gottgegebenen Talente bei den Jobs zum Tragen kommen, mit denen Sie als Erwachsener Ihre Brötchen verdienen. Wenn Sie Ihre wahre Berufung nicht genau kennen, sehen Sie sich Ihre alten Schulzeugnisse an, und achten Sie darauf, in welchen Fächern Sie besonders gut waren. Ich war immer besonders gut in Englisch, Französisch und Musik, und was bin ich geworden? Krankenschwester.) Der Lust -Part an der Wanderlust hat eher etwas mit Resignation als mit Eroberung zu tun, wohingegen der Wander -Part sich weniger auf ferne Reiseziele bezieht, sondern auf die Bereitschaft, die eigenen Grenzen und das Verständnis dessen, was man als »normal« bezeichnet, zu erweitern.
Wie Sie ein neues Land kennenlernen, wird auch maßgeblich von Ihrem Transportmittel sowie Faktoren wie Reiseführer, Unterkunft, Wetter, Essen und dem psychologischen Gepäck beeinflusst, das Sie mit sich herumschleppen. Das sind Ihre Hoffnungen und Ängste, Ihre Vorurteile und Pläne. Proust sagte einmal, die wahre Natur der Entdeckungsreise sei nicht, einen neuen Ort zu erkunden, sondern die Welt mit anderen, sprich neuen Augen zu betrachten. Der Besucher und Gast eines fremden Landes betrachtet es stets im wohlwollenden Licht der Wärme und der Schönheit. Reisen beeinflusst uns auf zweierlei Art gleichzeitig: zum einen zeigt es Sehenswertes, Wertvolles und Wichtiges, das uns sonst möglicherweise entgangen wäre, zum anderen lässt es uns Teile in unserem Innern erkennen, die in Vergessenheit geraten könnten, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit ans Tageslicht kämen. Mit einer Reise an einen unbekannten Ort begeben wir uns automatisch in Stimmungen und Gemütsverfassungen und zu tief verborgenen Teilen unseres Innern, mit denen wir uns sonst nur sehr selten konfrontieren, weil kein Anlass dafür besteht. Und natürlich wird ein Reiseautor wohl niemals die Dienste eines Seelenklempners in Anspruch nehmen müssen. Man verbringt so viel Zeit mit sich selbst, dass man all seine Probleme und Lebensthemen ganz allein löst.
Erste Reisen
Meine ersten Reiseerlebnisse reichen in die Zeit zurück, als wir im Familienkombi in unser Haus am Strand fuhren. Die 45-minütige Fahrt zog sich in Wahrheit meistens geschlagene zwei Stunden hin, weil meine Mutter pausenlos drohte, uns Kinder auf der Straße auszusetzen oder auf die nächste Polizeiwache zu fahren und uns dort abzugeben. Wir fuhren an sanft geschwungenen, grünen Hügeln und dichten Sträuchern vorbei, und entweder goss es in Strömen oder ein wilder Sturm ließ die Landschaft erzittern. Szene: Sechs Kinder, die bis auf dreitausend Sommersprossen keinerlei Gemeinsamkeiten
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