Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
haben, schreien, schubsen, toben und werfen sich gegenseitig wüste Beschimpfungen an den Kopf. Ich hatte mir angewöhnt, meine Geschwister eisern zu ignorieren, aber was blieb einem schon übrig, wenn man in einem engen Wagen mit ihnen festsaß?
»Harvey! Halt sofort an!«
»Nein, nicht anhalten, Dad!«
»Anhalten!«
»Ich kann hier aber nicht halten, Ann, das ist zu gefährlich.«
»Halt an. SOFORT !«
Quietschende Reifen. Die Mutter stürzt aus dem Wagen und reißt sämtliche Türen auf.
»Los, alle aussteigen. Mir reicht’s, ihr geht zu Fuß nach Hause.«
Die Kinder lassen sich vom Rücksitz auf die Straße fallen.
»Wir tun’s auch nicht wieder, Mum. Ehrlich. Wir sind ganz brav.«
Jammernd und heulend klammern sich die Kleineren an die Hemdzipfel der Größeren.
»Nein, ich habe gesagt, ihr geht zu Fuß, also geht ihr zu Fuß.«
»Schatz, meinst du nicht …«
»Dad, hilf uns, bitte, Dad. Wir versprechen auch, dass wir uns nie wieder zanken, großes Indianerehrenwort!«
Ein kurzer Blickwechsel zwischen den Eltern, die mittlerweile Mühe haben, ernst zu bleiben.
»Was denkst du, Schatz?«
»Lass sie wieder einsteigen. Letzte Chance.«
Kollektives Lächeln und kleinlaute Dankbarkeit. Fünf Minuten lang herrscht Stille im Wagen, gefolgt von gedämpftem Geplauder, dann fängt das Ganze von vorn an. Möglicherweise rede ich deshalb in öffentlichen Verkehrsmitteln niemals mit anderen Menschen. Ich habe ständig Angst, sie könnten etwas wie: »Wenn du noch einmal meinen Lollie anfasst, sage ich es Mum und kratz dir die Augen aus«, zu mir sagen. Allerdings habe ich etwas in dieser Art zu einem armen Mann auf dem Heimflug von Bolivien gesagt. Ich war völlig traumatisiert von der zehntägigen Reise, krank und total übermüdet, als dieser texanische Fettsack auf dem Platz neben mir mit diesem typisch gedehnten Akzent »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht krumm, Schätzchen, aber kann sein, dass ich’n bisschen schnarche«, sagte. Ich fuhr herum und funkelte ihn zornig an. »Nicht in tausend Jahren. Wenn Sie es wagen, mich zu stören, kotze ich Ihnen auf den Schoß.« So etwas nennt man unangemessenes Benehmen in einem Flugzeug.
Flughäfen
Ein Aufenthalt am Flughafen ist ein unvermeidlicher Bestandteil einer Reise, ein Ort, an dem jede Form des Benehmens zwangsläufig unangemessen ist. Vielen Menschen geht es im Flugzeug wie im Krankenhaus: Der Stress und die Sorge lösen eine spontane Persönlichkeitsveränderung aus. Entweder geht der Aufenthalt in diesen Mausoleen vollkommen reibungslos über die Bühne oder er ist ein Reinfall auf der ganzen Linie. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals an einem Flughafen wohlgefühlt zu haben. Entweder war mir schlecht, ich kämpfte gegen Bewusstlosigkeit oder schleichende Demenz an, heulte, war wütend, gelangweilt oder drohte nicht ins Flugzeug gelassen zu werden, weil meine Beine nach endlosen Stunden in der Warteschlange am Check-in bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen waren. Als Kind hatte man mich häufig in ein Flugzeug verfrachtet, um die Familie meiner Mutter in Australien zu besuchen. Ich kotzte den gesamten Flug über, sowohl hin als auch zurück, meine Fußknöchel schwollen auf die doppelte Größe an, und ich musste mehr als einmal im Rollstuhl aus der Maschine geschoben werden. Wie konnte ich nur Reiseautorin werden? Das nützlichste Utensil auf einem Flughafen ist meiner Meinung nach ein Blasenkatheter, denn die Toilettentüren sind so schmal, dass man nie im Leben sein Gepäck mit in die Kabine nehmen kann. Die Bosse der internationalen Flughäfen haben das mit Absicht getan, damit sie, wenn Sie fluchen und Ihr Gepäck dreißig Sekunden lang unbeaufsichtigt im Vorraum stehen lassen, es zwangsdetonieren lassen können.
Ein gutes Timing ist das A und O bei Anschlussflügen, deshalb lässt sich das Kabinenpersonal extra etwas einfallen, um Sie in den Wahnsinn zu treiben; beispielsweise lassen sie Sie in London zwanzig Minuten in der Maschine warten, bis Sie endlich aussteigen dürfen, weil Sie die mobile Gangway nicht finden. Dann warten Sie eine halbe Stunde auf die »in kurzen Zeittakten verkehrenden« Shuttles zwischen den Terminals. Die Leute neben einem unterhalten sich angeregt in einer exotischen, gutturalen Sprache, die nach Schwedisch oder so etwas klingt, der Sie angestrengt lauschen und sie zuzuordnen versuchen. Am Ende dämmert Ihnen, dass es Englisch ist, nur eben aus irgendeinem finsteren, urzeitlichen Kaff irgendwo im Norden von
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