Wer will schon einen Traummann: Roman (German Edition)
Gehversuch auf Krücken zu.
»Guck her!«, rief der pummelige Rotschopf strahlend, stützte sich auf ihre Krücken und schickte sich an, den unglaublich mühsamen Schritt zu tun. Was für ein Mut!
Nealy hatte noch nicht oft Scham verspürt, doch nun wurde sie geradezu davon überwältigt. Dieses Kind hier kämpfte so tapfer darum, sein Leben zurückzubekommen, während Nealy ihr eigenes an sich vorbeigehen ließ.
Sie war weder feige noch unfähig, für sich selbst einzutreten; dennoch hatte sie das alles mitgemacht, weil ihr kein vernünftiger Grund eingefallen war, der ihrem Vater oder dem Präsidenten klar gemacht hätte, warum sie die ihr von Kind an zugedachte Rolle nicht mehr spielen wollte.
Genau in diesem Augenblick traf sie eine Entscheidung. Sie wusste nicht, wie oder wann, aber sie würde sich befreien. Selbst wenn diese Freiheit bloß einen Tag – eine Stunde! – dauern sollte; zumindest würde sie es auf einen Versuch ankommen lassen.
Nealy wusste ganz genau, was sie wollte. Sie wollte einmal wie ein normaler Mensch leben: einkaufen gehen, ohne angestarrt zu werden, mit einem Eis in der Hand durch eine Kleinstadt bummeln und lächeln, einfach, weil ihr danach zumute war, nicht weil sie musste. Einmal wollte sie sagen können, was sie dachte, einmal einen Fehler machen. Sie wollte sehen, wie die Welt wirklich war, nicht herausgeputzt für einen offiziellen Besuch. Vielleicht würde sie dann ja herausfinden, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte.
Nealy Case, was willst du einmal werden, wenn du groß bist? Als sie noch ganz klein war, hatte sie immer geantwortet: Präsident, aber jetzt hatte sie keine Ahnung mehr.
Aber wie konnte die berühmteste Frau Amerikas auf einmal ein ganz normaler Mensch werden?
Ein Hindernis nach dem anderen durchkreuzte ihren Sinn. Es kam nicht in Frage. Die First Lady konnte nicht einfach verschwinden. Oder doch?
Personenschutz setzte Kooperation voraus, und im Gegensatz zu dem, was die meisten Leute dachten, war es durchaus möglich, dem Secret Service zu entschlüpfen. Bill und Hillary Clinton hatten sich in der Anfangszeit seiner Regierung einmal davongestohlen, waren jedoch unmissverständlich ermahnt worden, dass sie sich diese Art von Freiheit nun nicht mehr leisten konnten. Kennedy trieb den Secret Service mit seinem dauernden Verschwinden in den Wahnsinn. Ja, irgendwie wollte sie ihre Fesseln abwerfen – aber es hätte keinen Sinn, wenn sie sich nicht frei bewegen könnte. Jetzt kam es darauf an, einen Plan auszuhecken.
Einen Monat später war es so weit.
An einem Vormittag im Juli, etwa gegen zehn Uhr, gesellte sich eine ältere Dame zu einer Besuchergruppe, die soeben durch die Räume des Weißen Hauses geführt wurde. Sie hatte weißes, dauergewelltes Haar mit Korkenzieherlöckchen, trug ein grün-gelb kariertes Kleid und eine große Plastiktasche. Ihre knochigen Schultern beugte sie nach vorn, ihre dünnen Stelzen steckten in Stützstrümpfen und ihre Füße in einem Paar bequemer brauner Schnürschuhe. Durch eine große Brille mit einem Perlmuttrahmen und einer Falschgoldverzierung an den Rändern spähte sie suchend in ihre Begleitbroschüre. Ihre Stirn war aristokratisch, die Nase klassisch, und ihre Augen leuchteten so blau wie der Himmel über Amerika.
Nealy schluckte krampfhaft und widerstand dem Drang, an der Perücke, die sie sich über ein Versandhaus hatte schicken lassen, zu zupfen. Auch das Polyesterkleid, die Schuhe und die Strümpfe waren per Katalog eingetroffen. Sie machte das immer so, weil sie sich damit ein Stückchen Privatsphäre bewahrte. Auch benutzte sie stets den Namen ihrer Stabschefin, Maureen Watts, plus der falschen Mittelinitiale C, sodass Maureen wusste, diese Bestellung stammte von Nealy. Ihre Mitarbeiterin hatte keine Ahnung, was sich in den Paketen befand, die sie kürzlich im Weißen Haus abgegeben hatte.
Nealy blieb bei dem Grüppchen, das nun vom Roten Zimmer in den State Dining Room mit seiner Einrichtung im amerikanischen Empire-Stil weiterrückte. Überall waren Videokameras installiert, die alles aufnahmen, und Nealys Hände fühlten sich feucht und eiskalt an. Sie versuchte, aus dem Porträt von Lincoln Kraft zu schöpfen, das über dem Kamin hing. Darunter prangten die Worte John Adams’, die sie schon so oft gelesen hatte: Möge Gott dieses Haus segnen und alle, die dereinst darin wohnen. Mögen nur ehrenhafte und weise Männer unter seinem Dach regieren.
Die Führerin der Gruppe stand beim
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