Wer Wind sät
das Gegenteil von dem, was sie sagten. Aber warum nur? Warum konnte niemand aufrichtig und ehrlich sein? Mark lag in seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Sein Kopf dröhnte, die Migräne war über Nacht noch schlimmer geworden.
DrauÃen schien die Sonne, ihr Licht fiel durch die Ritzen der Rollläden und zeichnete ein Muster auf den FuÃboden. Er hörte die Stimmen seiner Eltern auf der Terrasse unterhalb seines Fensters. Porzellan klirrte, sie frühstückten wohl. Seine Mutter giggelte ihr falsches Lachen. Sie lachte immer, auch wenn es überhaupt nichts zu lachen gab, und spielte die Rolle der glücklichen Ehefrau, solange sie Zuschauer hatte. Fühlte sie sich unbeobachtet, dann heulte sie. Oder trank heimlich Wodka aus Wassergläsern. Sie log sich selbst etwas vor. Genau wie ich, dachte Mark und krümmte sich zusammen.
Der Nachbarshund bellte.
»Halt die Klappe!«, rief sein Vater dem Hund zu. Der war auch so ein Grinser. Unter der aufgesetzten Fröhlichkeit brodelten Frust und Zorn, die sich manchmal explosionsartig entluden. Natürlich nur, wenn es niemand sah und hörte. Erst neulich nachts hatten sich seine Eltern wieder angebrüllt, aber vom Allerfeinsten. Danach hatte sich seine Mutter heulend in ihrer Werkstatt verkrochen, doch am nächsten Morgen hatte sie wieder gestrahlt, als sei nichts gewesen. Abschiedsküsschen. Bis heute Abend, Schatz! Tür zu. Ein Glas Wodka darauf, dass der Schatz sich endlich verpisst hatte. Widerlich.
»Ma-ark!«, trällerte seine Mutter von unten hoch. »Aufstehen!«
Nein, er würde heute nicht aufstehen, selbst dann nicht, wenn Ricky anrufen sollte. Ricky! Die Bilder, ihre Stimmen und die Geräusche, die sie von sich gegeben hatten, kehrten in einer gallebitteren Welle zurück. Mark zog das Kissen über seinen Kopf und presste die Hände auf die Ohren, als ob er so das brünstige Stöhnen und Keuchen ausblenden könnte.
Wieso war er gestern bloà nicht gleich nach Hause gefahren? Er wollte Ricky nicht so sehen, so fremd, so hässlich, so vulgär. Es quälte ihn. Machte ihn krank. Fast so wie damals, als Micha ihn im Stich gelassen hatte. Ihm hatte Mark auch vertraut â und dann war er einfach verschwunden, von einem Tag auf den anderen, und hatte nichts getan, um zu verhindern, dass sie sich auf ihn stürzten, diese Geier, die all das Schöne in den Dreck zogen und etwas Ekelhaftes daraus machten. Er hatte auf ihre bohrenden Fragen geschwiegen, gewartet und gehofft. Micha würde wiederkommen. Er würde alles erklären, und dann würde alles wieder so sein wie früher. Doch Micha war nicht wiedergekommen, und nichts war mehr so geworden, wie es einmal gewesen war.
Marks Handy gab einen klingenden Ton von sich. Er griff nach dem Telefon, öffnete die SMS . Hey Mark , schrieb Ricky. Tut mir leid, dass ich mich gestern nicht gemeldet hab. Mir gingâs nicht gut, Rückenschmerzen! Bin früh ins Bett. Kommst du später zum Hundeplatz? LG Ricky .
Rückenschmerzen! Ha! Hätte er nicht mit eigenen Augen gesehen, was sie getrieben hatte, dann hätte er ihr sofort geglaubt. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wie oft hatte sie ihn wohl schon angelogen? Warum log sie überhaupt? Es gab doch eigentlich gar keinen Grund! Plötzlich wurde ihm wieder schlecht. Er sprang auf, stolperte hinüber ins Badezimmer und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
»Mark!« Seine Mutter erschien im Türrahmen, Besorgnis in der Stimme.
»Was ist denn los? Bist du krank?«
»Ja.« Er zog die Klospülung. »Hab wohl was Falsches gegessen. Ich bleib heut im Bett.«
Er wankte an seiner Mutter vorbei zurück in sein Zimmer und sackte ins Bett. Sie folgte ihm und redete noch auf ihn ein, aber er schloss einfach die Augen und wartete, bis sie endlich abgezogen war.
ScheiÃe, jetzt hatte er ja selber gelogen! Er war kein Deut besser als Ricky oder Jannis, dieser Lügner.
Eine zweite SMS von Ricky kam. Mark! Antworte doch mal kurz!
Er dachte nicht daran. Die Enttäuschung saà tief und machte ihn wütend. Sie hatte dem Bild, das er von ihr hatte, einen irreparablen Kratzer zugefügt. Ricky sollte kein gewöhnlicher Mensch sein, er wollte sie bewundern und verehren, so, wie er Micha bewundert und verehrt hatte, bis ihm aufgegangen war, dass er ihn nur belogen und verraten hatte. Sein Handy meldete sich wieder. Die dritte SMS von Ricky.
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