Wer Wind sät
Diesmal antwortete er. Bin in der Schule. Melde mich. Sonst nichts. Es war das erste Mal, dass er Ricky anlog.
*
Cem und Kathrin brachen auf, Ostermann raffte seine Papiere zusammen und verschwand in sein Büro. Bodenstein und Pia blieben am Tisch sitzen. Seit dem gestrigen Abend mit seinem Vater schwirrte eine vage Erinnerung in seinem Unterbewusstsein herum, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, aber partout nicht einfallen will. Es machte ihn schier verrückt, denn er kam einfach nicht darauf, was es war.
»Mein Vater kann sich übrigens mittlerweile an den Mann erinnern, der mit Hirtreiter geredet hat«, brach er nach einer Weile das Schweigen. »Leider war es weder Theissen noch Rademacher. Immerhin war der Mann eine auffällige Erscheinung, mindestens so groà wie Hirtreiter, also gut eins neunzig.«
»Glaubst du doch an einen Killer?«
Pia malte ohne aufzublicken auf ihrem Block herum. Er konnte ihre Verärgerung verstehen. Es war nicht fair von ihm gewesen, einfach nicht ans Telefon zu gehen.
»Nein. Ein Killer wäre kaum das Risiko eingegangen, Hirtreiter im Beisein eines Zeugen auf einem Parkplatz anzusprechen.« Bodenstein stützte nachdenklich das Kinn auf die Faust. »Aber es ist zu wenig für eine Fahndung.«
»Warten wir ab, was Cem und Kathrin herausfinden«, schlug Pia nun vor und jonglierte den Kugelschreiber zwischen ihren Fingern. Der Ring, den er bereits neulich an ihrem Finger bemerkt hatte, blitzte im Licht der Deckenlampe auf, und genauso blitzartig zuckte eine Erinnerung durch seinen Kopf. Doch da klingelte sein Handy, und die Erinnerung versank wieder in den Tiefen seines Gehirns. Verdammt!
»Bodenstein«, meldete er sich verärgert.
»Hier auch. Wo bist du gerade?« Die Stimme seines Vaters klang eigenartig.
»Im Büro. Wieso?«, fragte Bodenstein alarmiert. »Ist etwas passiert?«
»Allerdings. Kannst du nach Königstein kommen? Ich bin im Café Kreiner.«
»Wir sind gleich bei dir.« Bodenstein stand auf und wollte das Gespräch beenden, aber sein Vater fügte hinzu:
»Komm bitte allein. Es ist eine ⦠nun ja ⦠etwas heikle Angelegenheit.«
»Ja, in Ordnung. Ich komme.« Er beendete das Gespräch.
»Ist etwas passiert?«, erkundigte Pia sich.
»Hörte sich so an.« Bodenstein nickte. »Ich muss nach Königstein. Allein, leider.«
»Na klar.« Pia lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn mit unergründlicher Miene. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass er sie mit seinem Verhalten kränkte, aber er konnte ihr unmöglich erklären, was seit Mittwochabend in ihm vorging. SchlieÃlich war er sich selbst nicht sicher, was es war. Es fühlte sich völlig anders an als die Sache mit Heidi vor ein paar Monaten. Sie war kaum mehr als ein Trostpflaster für ihn gewesen. Nika hingegen hatte eine Saite in ihm zum Klingen gebracht, von der er bis dahin nicht geahnt hatte, dass es sie überhaupt gab. Wenn er an sie dachte â und das tat er beinahe unablässig â, flatterten Schmetterlinge in seinem Bauch. Das war ihm noch nie passiert, und es verwirrte und verunsicherte ihn, weil er diesem Gefühl vollkommen machtlos gegenüberstand.
Pia sah ihn mit geneigtem Kopf von schräg unten an und wartete auf eine Erklärung, die er ihr zu seinem ehrlichen Bedauern schuldig bleiben musste. Nach kurzem Schweigen stand sie ebenfalls auf.
»Dann sehen wir uns später«, sagte sie kühl. »Ach, und falls dich dein Weg rein zufällig ins Zoogeschäft von Frau Franzen führen sollte, dann kannst du sie ja nach den Hamstern fragen.«
Sie warf sich ihren Rucksack über die Schulter und verlieà den Besprechungsraum, ohne ihn noch einmal anzusehen.
*
Achim Waldhausen, Staatssekretär im hessischen Umweltministerium, hatte keine Zeit, nach Hofheim zu kommen, deshalb fuhr Pia nach Wiesbaden.
Sie konnte sich auf Bodensteins Verhalten keinen Reim machen. Hatte er sich tatsächlich in die Lügenmaus aus dem Zooladen verguckt? Eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen, denn diese Frau entsprach so gar nicht dem üblichen Beuteschema ihres Chefs, aber möglicherweise war es eine Reaktion auf den Schock vom Mittwochabend. Eine posttraumatische Belastungsstörung konnte alles Mögliche auslösen. Pia versuchte sich einzureden, es sei ihr egal, was
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