Wer Wind sät
die er auf dieser Welt hatte! Andererseits hatte er das schon einmal geglaubt und war enttäuscht worden.
Du bist der einzige Freund, den ich auf der Welt habe. Das hatte er zu Micha gesagt, und es war die Wahrheit gewesen. Die Erinnerung an das warme Gefühl der Geborgenheit schwoll zu einer schmerzhaften Blase, die wuchs und wuchs, bis er kaum noch atmen konnte. Micha war nie ungeduldig gewesen, er hatte immer Zeit für ihn gehabt. Sie hatten zusammen im Garten gearbeitet, Spaziergänge gemacht und abends auf der Couch gelegen und ferngesehen, gelesen oder einfach nur geredet. An den Wochenenden, wenn alle anderen zu Hause waren und nur seine Eltern ihn mal wieder nicht haben wollten, hatte Micha ihm Kakao gekocht. Danach hatte er bei ihm übernachten dürfen, statt alleine im Viererzimmer schlafen zu müssen. Seinen Eltern hatte er natürlich nichts davon erzählt, denn sein Vater hätte ganz sicher nicht kapiert, wie verdammt allein und einsam er sich an diesen Wochenenden im Internat gefühlt hatte. Bis heute verstand Mark nicht richtig, warum Micha von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Man hatte ihn aus dem Unterricht geholt und zur Direktorin gebracht, seine Eltern waren da gewesen und lauter andere Leute, die er nie zuvor gesehen hatte. Es war ein Schock für ihn gewesen, als man ihm entsetzlich peinliche Fragen gestellt hatte. Eine Psychologin hatte auf ihn eingelabert, hatte mit allen Tricks versucht, ihm irgendwelche perversen Geschichten aus der Nase zu ziehen. Anhand einer Puppe hatte er zeigen sollen, wo Micha ihn angefasst, was er mit ihm getan hatte. Mark hatte keinen Ton gesagt und nichts begriffen, aber er hatte sich schrecklich gefühlt.
Erst viele Monate später hatte er zufällig im Fernsehen einen Bericht über das gesehen, was die Presse als »Missbrauchsskandal« bezeichnete, und da hatte er erfahren, dass sich der Lehrer Dr. Michael S. zwei Tage vor Beginn des Prozesses wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener im Gefängnis erhängt hatte.
Das war der Tag gewesen, an dem er sich einen der Golfschläger seines Vaters geschnappt hatte und losgelaufen war. Noch heute konnte er die tiefe Erleichterung fühlen, als die Autofenster unter den Schlägen geborsten, die Spiegel scheppernd über den Asphalt geschossen und die Alarmanlagen angegangen waren.
Mit jedem Schlag waren der Druck in seiner Brust und die Taubheit in seinem Kopf weniger geworden, bis sie ganz weg waren. Er hatte sich mitten auf die StraÃe gelegt und in den Sternenhimmel geguckt. Irgendwann waren die Bullen aufgetaucht und hatten ihn auf die Beine gezerrt.
Lange war alles gut gewesen, aber jetzt war er plötzlich wieder da, dieser Druck, unerträglicher und bohrender als je zuvor. Er konnte ihn nicht länger ignorieren. Musste ihn loswerden. Irgendwie.
Mark schlug seinen Kopf auf die Schreibtischplatte. Wieder und wieder, bis seine Nase blutete, die Haut anschwoll und platzte. Es musste weh tun, es musste bluten, bluten, bluten!
*
Professor Dirk Eisenhut ging nervös in der Hotelsuite auf und ab. Eigentlich hatte noch ein Abendessen mit den Gastgebern und ihren Ehefrauen auf dem Programm gestanden, aber er war zu aufgewühlt, um oberflächliche Konversation zu machen. Er beachtete weder die Flasche Champagner, die in einem Kühler auf Eis lag, noch das Tablett mit Köstlichkeiten aus der Küche des Hotels.
Sollte es nach fünf Monaten tatsächlich eine Spur von Annika geben? Niemals hätte er für möglich gehalten, dass ein Mensch im Jahr 2009 in Deutschland einfach verschwinden konnte, aber es war so. Am Anfang war er noch sicher gewesen, dass sie eines Tages wieder irgendwo auftauchen würde. Er hatte sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, alle Beziehungen spielen lassen, und das waren nicht wenige. Er hatte auf eigene Kosten ein renommiertes Detektivbüro eingeschaltet und den Sicherheitsdienst des Instituts auf jede noch so kleine Spur angesetzt, alles vergeblich. Anfang Februar hatte die Polizei ihr Auto bei Speyer aus dem Altrhein geborgen, aber es hatte keine Hinweise darauf gegeben, dass Annika im Auto gesessen hatte und ertrunken war. Das war die allerletzte Spur von ihr gewesen. Was war mit ihr geschehen? Was hatte sie in Speyer gemacht?
Dirk Eisenhut blieb am Fenster stehen und blickte in den dunklen Park. DrauÃen tobte ein heftiges Gewitter, das erste in diesem Frühling. Der Regen stürzte vom Himmel
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