Wer Wind sät
Eisenhut gearbeitet. Er will mich umbringen.«
Berlin, August 2008
Sie stieg vor dem Tacheles aus dem Taxi, blieb am StraÃenrand stehen und blickte sich suchend um. Es war erst kurz vor neun, sie war ein wenig zu früh. Die ungewöhnliche Ruine eines Kaufhauses aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zog mit ihren Cafés, Künstlerateliers und einem Club vor allem ausländische Touristen an, die von dem anarchischen Kunst- und Kulturwirrwarr fasziniert waren.
Der von Cieran gewählte Treffpunkt war perfekt, denn der warme Sommerabend hatte die Gegend zwischen der nördlichen FriedrichstraÃe und der Oranienburger StraÃe mit ihren zahlreichen Bars und Restaurants in eine einzige pulsierende Partymeile verwandelt â und damit wohl in den letzten Ort, an dem Dirk jemals auftauchen würde.
Touristen und junge Leute in Feierstimmung drängten sich vor dem Tacheles, jemand rempelte sie an. Sie ging ein paar Meter, blieb an einer FuÃgängerampel stehen und überquerte in einem Pulk bereits ziemlich angetrunkener Teenager die StraÃe. Aus den Küchen der Restaurants waberten Essensgerüche, es roch nach Knoblauch, Fisch, Pommesfett und gebratenem Fleisch. Musikfetzen, Reifenquietschen, Hupen, Gelächter. Das Gefühl der Verlorenheit, das sie seit jenem schrecklichen Abend in Deauville nicht mehr loslieÃ, wurde angesichts der fröhlichen Menschen stärker. Ihre Begegnung mit Cieran war schicksalhaft gewesen. Er hatte ihr die Augen geöffnet und Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns in ihr geweckt, aber nicht nur das. Plötzlich hatte sie eine Chance erkannt, sich an Dirk zu rächen.
»Hey, Annika.« Cierans Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Er küsste sie flüchtig auf die Wangen.
»Hallo, Cieran.« Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte. Er wirkte verändert. Besorgt. Erschöpft. Gestresst. Das jungenhafte Lächeln, das sonst die ersten Falten in seinem Gesicht milderte, war verschwunden. Und er war dünner geworden, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Stand ihm nicht gut.
»Wo wollen wir hingehen?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Du kennst dich hier wahrscheinlich besser aus als ich«, erwiderte sie. »Aber ich hätte Lust auf einen Cocktail.«
Er hob die Augenbrauen.
»Nicht lieber Rotwein? Ach, ich seh schon â¦Â« Da war das Lächeln. Ganz kurz zuckte es auf, verlosch aber sofort wieder. »Dann lass uns rüber in die Bellini Bar gehen, da kann man drauÃen sitzen.«
Er legte in einer vertraulichen Geste den Arm um ihre Schultern, sie passte ihren Schritt seinem an und gestattete es sich für einen kurzen Moment, wenigstens von den anderen Menschen als Pärchen wahrgenommen zu werden. Dirk hatte in der Ãffentlichkeit nie den Arm um sie gelegt. Aber warum auch? Er hatte sie ja nie geliebt. Mühsam kämpfte sie die Bitterkeit nieder, die ihr ständiger Begleiter geworden war, und versuchte, sich auf Cieran zu konzentrieren. Sie fanden zwei freie Plätze, Cieran bestellte ein Bier für sich und zwei Caipirinhas. Er wartete, bis die Bedienung die Getränke serviert hatte, dann beugte er sich zu ihr und begann zu erzählen. Sie hörte ihm zu, stumm und ungläubig. Ihr Hass und ihr Zorn auf Dirk Eisenhut wuchsen ins Unermessliche. Sie war so gefangen von dem, was Cieran sagte, dass sie den Mann mit der Kamera nicht bemerkte.
Samstag, 16. Mai 2009
»Nika ist weg! Einfach abgehauen, diese dumme Kuh!«
Verwirrt blinzelte Jannis ins helle Sonnenlicht. Ricky stand mit grimmiger Miene vor seinem Bett und wedelte mit einem Zettel.
»Was ist los?«, murmelte er verschlafen.
»Weg ist sie! Hat ihren Kram gepackt und mir diesen Wisch hier auf den Küchentisch gelegt!« Ricky war auÃer sich. »Dabei weià sie doch genau, dass Frauke nicht da ist. Wie soll ich denn wohl allein im Laden klarkommen?«
Jannis brauchte ein paar Sekunden, um vollständig wach zu werden und zu begreifen, was geschehen war. Nika hatte sich davongemacht.
»Sei doch froh«, sagte er.
»Ich bin nicht froh!«, erwiderte Ricky heftig. »Ich steh allein auf weiter Flur mit dem Laden und dem Haushalt. Woher soll ich denn so schnell Ersatz kriegen? Hilfst du mir etwa?«
Sie rauschte hinaus. Jannis seufzte und rieb sich die Augen. Es war gar nicht so leicht gewesen, Ricky gestern Abend zu besänftigen. Nach der Szene, die
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