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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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ihrer Rückkehr wird sie erwartet. Polizei steht am Fischerhäuschen, um Libs wegen Spionageverdachts zu verhaften.
    Freilich stellt es sich schnell heraus, dass alles nur ein Irrtum war. Freilich lässt man sie gleich wieder frei. Aber Libs ist verstört. Sie kehrt sofort nach Berlin zurück, wo Harro sich inzwischen überlegt hat, dass man besser doch nicht aufs Land zieht.
    Es ist immerhin fraglich, ob sie genug verdienen würden. Das wirtschaftliche Risiko wäre schwer kalkulierbar. Im Übrigen ist ein solches Idyll schlicht nicht mehr zeitgemäß. Man darf im Grunde nicht einmal davon träumen: Das verkündet Harro, Harro ist nach wie vor unterbezahlt, unterfordert, unterschätzt. Er lebt nicht das Leben, das er leben wollte. Daran sind die Nazis schuld. Also müssen die Nazis fallen.
    Die Nazis müssen verschwinden, damit Harro sich entfalten kann, und sie werden auch verschwinden. Wer ins Innere dieses Staates sieht, weiß, dass sie nicht bleiben können: Das sagt Harro im Kreis seiner Getreuen. Sie haben sich in Elfriede Pauls Wohnung versammelt.
    »Alles wird in einem neuen Weltkrieg untergehen«, sagt Harro. »Das prophezeie ich. Erst kommt der Weltkrieg und klärt die nationalen Fragen, dann wird der Klassenkrieg die sozialen Fragen klären.«
    Und wie kann Harro für sich auf eine führende Rolle hoffen, wenn er sich jetzt dem Kampf entzieht? Worauf soll er sein Recht auf Mitgestaltung begründen, wenn er den kommenden Auseinandersetzungen schon im Vorfeld ausweicht und in die Pampa zieht? Nein, er muss in Berlin bleiben.
    »Im Ministerium haben wir jetzt wochenlang an einem Papier über die Entwicklung der ausländischen Luftrüstung geknobelt«, sagt Harro. »Aus den verfügbaren Informationen geht zweifelsfrei hervor, dass die Franzosen und Engländer die Deutschen bis Ende des Jahres in der Luftrüstung eingeholt und in puncto Flugzeugproduktion bis Anfang 1940 überflügelt haben werden. Also haben wir das geschrieben. Göring hat getobt. Defätismus! Verrat! Vernichtung! Wir werden ihm nun ein neues Papier basteln. Aus dem wird hervorgehen, dass die Luftrüstungskapazität der anderen viel zu gering ist, umselbst innerhalb einer ganzen Dekade unseren Rüstungsvorsprung einzuholen.«
    »Und was ist über die englische Garantie zu sagen, Polen als Staat zu erhalten?«
    »Ach, die Engländer. Die werden für Polen keinen Finger rühren. Der Westen faselt von Menschenrechten und Freiheit, aber in Wirklichkeit haben sie nur Angst davor, dass die Roten drankommen. Franco, Hitler und Mussolini können sich auf den Westen verlassen. Madrid war noch nicht gefallen, da hatten die Westmächte das Franco-Regime bereits anerkannt. Nein, der Westen wird uns nicht angreifen. Aber wir werden den Westen angreifen.« Harro streckt sich, er greift nach seiner Teetasse. »Ich bin im Grunde sehr optimistisch«, sagt er. »Natürlich nicht in dem Sinne, dass ich einem wirren Traum vom Glück nachhinge, das sicher nicht. Ich glaube nicht an einen guten oder friedlichen Ausgang der Dinge. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um ein kämpferisches Leben, das man jederzeit bejahen kann.«
    Harro klingt immer sehr frohgemut.
    Wenn Harro guten Mutes ist, dann will auch Libs kein defätistischer Feigling sein. Ihr ist es manchmal, als sackte der Boden unter ihr weg.
    Sie hat manchmal das Gefühl, als käme die Wirklichkeit ihr rasend entgegen, eine Lokomotive, die aus den Gleisen des Alltags gesprungen ist, in denen sie fahrplan- und vorschriftsmäßig dahinzugleiten hätte, während Libs hinter der sicheren Schranke steht. Aber was, wenn Libs in Wahrheit gänzlich ungeschützt ist? Was, wenn in Wirklichkeit nur ein paar dünne Jahre zwischen ihr und dem Alter, dem Tod, dem Verderben stehen? Was, wenn sie ihre Jugend verliert, ihre Reize, ihre Anziehungskraft, wenn ihr nie etwas Bleibendes gelingt, wenn sie Harro verliert, für immer, für immer?
    Es ist freilich Unsinn, so etwas zu denken. Es vergeht auch gleich wieder. Es war sicher nur ein Anflug von Erkältung. Libs nimmt ein schönes heißes Bad. Sie fährt nach Liebenberg zum Reiten. Libs fährt mit der Mutter an den Rhein, mit Harro und den Schumachers in den Spreewald. Sie lädt Gäste ein, sie kocht ihnen Tee, sie hat eine Flasche Rum aufgetrieben. Libs packt ihr Schifferklavier, stellt das Bein auf den Stuhl und singt. Sie singt das Lied vom Räuberhauptmann und seinem Mädel,
    Nimm diesen Ring, und sollte jemand fragen,
    So sollst du sagen, ein Räuber habe ihn

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