Wer wir sind
Körbchen gelegt. Das Körbchen ist für die Hohenemsers: für Elisabeths blinden Onkel Richard, für Tante Alice. Elisabeth will sie nachher noch besuchen. Sie hat ihnen eine kleine Tasche voll Welt gepackt: Fotos von einem Ausflug in den Spreewald,Patience-Karten, die Juniausgabe von ›Velhagen und Klasings Monatsheften‹ mit Artikeln über den Tenor Benjamino Gigli, den Maler Wilhelm von Kobell und leider auch einem Erguss des evangelischen Theologen Gerhard Kittel über Weltjudentum und Rassenmischung in der römischen Kaiserzeit.
Tante und Onkel sind für alle Gaben sehr dankbar. Sie können ja nur noch in ihrer Wohnung sitzen. Fast alles andere ist ihnen verboten: Museen, Konzerte, Kinos, Theater, Badeanstalten, Busfahren und die Rast auf Parkbänken, die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, auch die Mitgliedschaft in Vereinen.
»Natürlich hilft uns nun auch keiner mehr.«
Das sagt Tante Alice.
»Uns sieht ja keiner mehr. Wer soll uns helfen? Keiner bemerkt ja mehr, dass wir da sind.«
Keiner außer Elisabeth. Immerhin sind die Hohenemsers bislang nicht aus ihrer Wohnung vertrieben worden.
»Ach Kind. Darauf warten wir noch. Hier sitzen wir und warten darauf, dass sie uns aus unserer Wohnung vertreiben. Die Goldmanns sind aus ihrer geworfen worden. Wo sie doch zweiundzwanzig Jahre dort gelebt haben. Aber wir gehen nicht. Eher sterbe ich.«
Elisabeth geht durch Kurts Atelier. Das große Tor steht offen. An der Wand liegt der halbfertige Druckstock, an dem Kurt zurzeit arbeitet. Daneben auf einem großen Holztisch liegen Stifte und Papier. Elisabeth tritt an den Tisch.
Sie ergreift einen Stift. Sie nimmt ein Blatt. Sie beginnt zu zeichnen: Kurt Schumachers Gesicht, das so oft gezeichnete, dies gelingt ihr blind. Es gelingt ohne Vorlage, auch wenn er nicht bei ihr ist. Diese Züge, diese Formen hat sie in den Innenflächen der Hand, in den Fingerspitzen. Aber sie hat das Gesicht ein wenig zu weit nach rechts gesetzt.
Viel zu weit nach rechts. Die Zeichnung ist nicht balanciert. Sie verlangt nach einem Gegengewicht. Elisabeth zögert. Dann holt sie einen Handspiegel aus der Tasche. Sie betrachtet sich im Spiegel, greift wieder zum Stift, dies kann sie nicht blind tun. Ihr eigenes Gesicht ist ihren Fingern fremder als das seine.
Lotte Schleif sitzt in ihrer kleinen Wohnung am Küchentisch, mit Heinrich Scheel, Hans Lautenschläger und Hans Coppi. Rudolf Bergtel ist fort. Er ist sehr weit fort: Er ist in Sicherheit. Lotte denkt an Rudolf Bergtel, an seine Jahre im Lager.
»Und wozu das alles?«
Stalin und Hitler haben einen Pakt unterzeichnet.
»Was ist mit den Toten? Was ist mit den Ermordeten?«
Ein Kommunist hat zwei Vaterländer, Deutschland und die Sowjetunion. Nun sind sie von beiden Ländern verraten.
Aber vielleicht haben Lotte und die Jungen etwas übersehen. Vielleicht kann Kurt Schumacher noch einmal helfen? Ein paar Tage später sitzen die Scharfenberger wieder um Lottes Tisch. Sie sitzen wie das letzte Mal. Aber die Atmosphäre ist verwandelt. Das drückende Wetter ist abgezogen, die Luft prickelt und sprüht vor Frische. Kurt und Elisabeth Schumacher haben einen Mann mitgebracht, der sich als Hans hat vorstellen lassen. Er trägt Knickerbocker, ein loses Hemd. Das blonde Haar hat er zurückgekämmt. Sein Gesicht ist offen, freundlich. Seine Haltung ist entspannt. Dennoch hat er etwas Straffes, durchaus Militärisches.
»Also?«, sagt der Mann, der sich Hans nennt. »Was meint ihr? Was wird eurer Meinung nach im Westen passieren?«
Die Jüngeren hängen an seinen Lippen.
»Was wird passieren, wenn wir demnächst Polen überrennen?«
»Die Westmächte werden uns den Krieg erklären.«
Der neue Hans betrachtet den Sprecher voll Stolz, wie ein Lehrer den Klassenprimus.
»Richtig«, sagt er. »Genau. Sie werden uns den Krieg erklären. Aber werden sie ihn führen? Werden sie ihn führen können?«
Die Jungen beginnen zu strahlen. Der neue Hans grinst.
»Was, wenn sie uns den Krieg erklären, aber ihn gar nicht führen können? Was, wenn dann Russland einen Beistandspakt mit dem Westen hätte statt eines Nichtangriffspaktes mit uns?«
»Dann müssten die Russen für die Engländer kämpfen.«
»Dann müssten die Russen sich für die Kapitalisten schlagen.«
Nun strahlen sie alle. Sie reden durcheinander. Der neue Hans hat sie, er reißt sie mit.
»Es ist also gar kein Nichtangriffspakt.«
»Es ist ein Noch-nicht-Angriffspakt.«
»Der den Russen Zeit gibt, sich
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