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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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getragen,
    Der dich geliebt bei Tag und bei der Nacht.
    Harro lächelt. Er hört ihr zu. Er singt leise mit, die letzte Strophe,
    Und auf dem Berge, da sah man Schwerter blitzen,
    und an der Spitze den Räuberhauptmann sitzen.
    Doch eine Kugel traf ihn in das Herz.
    Sechs stolze Reiter, die trugen seine Leiche,
    und legten ihn wohl unter eine Eiche
    Dietrich Bonhoeffer hat Deutschland verlassen. Er ist in Amerika. Er ist emigriert. Es ist der 15. Juni 1939. Dietrich ist seit einer guten Woche hier. Er hat sich den Entschluss nicht leichtgemacht. Er hat mit Bischof Bell in England gesprochen, auch mit Willem Adolf Visser ’t Hooft, dem neuen Generalsekretär des Vorläufigen Weltrats der ökumenischen Kirche. Beide haben ihm zugeredet zu gehen. Denn was soll Dietrich tun, wenn er zum Kriegsdienst einberufen wird?
    Er ist unter keinen Umständen bereit, für Hitler in den Krieg zu ziehen und den Treueeid der Soldaten zu leisten. Mit dieser Haltung steht er allein. Tatsächlich ist man in den Bruderräten allgemein der Ansicht, auch ein Pfarrer hätte die Pflicht, fürsein Vaterland zu kämpfen, wenn er eingezogen wird. Dennoch hat Dietrich die Abreise so lange hinausgeschoben, dass es fast zu spät gewesen wäre.
    Reinhold Niebuhr und Paul Lehmann haben Dietrich auf ein Gastsemester in die USA eingeladen. Dietrich hat ein Urlaubsgesuch eingereicht, aber noch bevor das Wehrmeldeamt darüber entschieden hatte, kam der Befehl zur Musterung. Ohne die Fürsprache seines Vaters hätte man Dietrich wohl schwerlich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt.
    Aber es ist alles gut ausgegangen. Dietrich ist in New York. Die Bescheinigung gilt für ein Jahr. Dietrich hat ein Jahr Zeit, um mit sich zu Rate zu gehen. Aber er wird natürlich hierbleiben. Er wird auch nach Ablauf dieses Jahres nicht zurückkehren, er müsste ja verrückt sein. Dietrich ist nun in Sicherheit.
    Er ist außerdem sehr nett empfangen worden. Paul Tillich und Reinhold Niebuhr haben ihn am Hafen in New York abgeholt. Sie haben ihn in seinem alten kleinen Zimmer im New Yorker Union Seminary untergebracht, in demselben, das er 1930 bei seinem Studienaufenthalt bewohnt hat. Sie haben auch Einladungen zu Vorlesungen und Vorträgen für ihn eingefädelt.
    Dietrich hat nun alles, was sich ein Flüchtling oder ein Emigrant nur wünschen kann: Wirkungsmöglichkeiten, ein Einkommen, Freunde, ein Zuhause. Man duldet ihn nicht nur, man freut sich über seine Ankunft. Man ist erleichtert und glücklich, ihn hier zu wissen. Und natürlich geht man davon aus, dass er bleibt, solange das Reich der Finsternis währt. Das Problem ist, dass Dietrich nicht recht begreifen kann, warum er eigentlich hier ist.
    Dietrich ist in Amerika nicht nötig. Er ist überflüssig. Er ist vollkommen ersetzbar: Alles, was er hier tut, könnte vonanderen getan werden. Paulus Tillich hat abgewunken, als ihm Dietrich seine Bedenken mitgeteilt hat.
    »Das ist doch Unsinn. Natürlich werden Sie hier gebraucht, genau Sie. Man wird Ihnen anbieten, die Betreuung der Emigranten in New York zu übernehmen, im Auftrag des Amerikanischen Komitees für christliche deutsche Flüchtlinge. Das ist doch eine Aufgabe von Belang.«
    Ohne Zweifel. Aber wenn Dietrich Emigranten betreut, Feinde der Nationalsozialisten, ist ihm der Rückweg endgültig versperrt. Das ist ein unerträglicher Gedanke. Dietrich quält sich seit Tagen. Das Heimweh quält ihn, das bitterste, bitterböseste Heimweh. Er versteht es nicht. Er ist so oft im Ausland gewesen, und er hat niemals Heimweh gehabt. Er muss sich einfach am Riemen reißen. Er muss sich damit abfinden, dass er jetzt hier ist. Sicher geht es den meisten Emigranten nicht anders als ihm. Und die Freunde haben so viel für ihn getan. Er möchte keinesfalls undankbar erscheinen. Aber Deutschland fehlt ihm. Die Brüder fehlen ihm, die Arbeit.
    Arbeitet er hier etwa nicht?
    Jedenfalls tut er etwas. Warum es nicht Arbeit nennen? Er hat seit drei Tagen keine Post mehr erhalten. Ein Tag ohne Post ist ein toter Tag. Ein Tag ohne Nachricht von daheim ist ein Tag, den Dietrich nicht gelebt hat, und nun sind es bereits drei Tage. Hat man ihn schon vergessen? Ist er für die anderen tot? Dietrich ist lebendig begraben. Diese große Stadt New York, dieses weite Land Amerika ist eine Gefängniszelle, in die er eingekerkert ist. Und je länger dieser fürchterliche Zustand dauert, desto entschiedener sträubt er sich dagegen, dies als nunmehr geltenden Normalzustand zu

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