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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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niemals mehr anmaßen können, an der Wiederherstellung christlichen Lebens mitzuarbeiten.«
    Jetzt weint sie. Er ergreift ihre Hände.
    »Nicht weinen«, sagt er. »Das musst du nicht. Ich bin wirklich vollkommen heiter. Du musst auch heiter bleiben und Gott vertrauen. Du darfst die Hoffnung nicht verlieren.«
    Sie hebt den Kopf.
    »Aber worauf hoffst du?«, sagt sie. »Wofür wirst du beten, Dietrich?«
    »Für die Niederlage Deutschlands natürlich. Ich werde von nun an täglich für den Sieg der christlichen Zivilisation beten, um den Preis der Zerstörung unserer Heimat. Und siehst du, gerade deswegen muss ich ja zurückkehren. Diese fürchterliche Bitte dürfte ich doch niemals aussprechen, wenn ich in Sicherheit in Amerika geblieben wäre.«

2
    »Man muss den Krieg nehmen wie ein Gewitter.«
    »So sehe ich es auch. Ein Gewitter, das die Luft klären wird.«
    »Nächstes Jahr im Herbst ist der Spuk vorbei.«
    »Das Tausendjährige Reich wird deutlich kürzer als geplant.«
    »Noch fünf Minuten! In fünf Minuten ist es so weit.«
    »Das ist Quatsch. So leicht wird es auch wieder nicht. It’s a long way to Tipperary, das sage ich euch.«
    It’s a long way to Tipperary
    It’s a long way to go –
    Harro hat ihnen vorhin das Lied beigebracht. Seitdem ist es immer wieder angestimmt worden, unabhängig davon, welche Platte gerade auf dem Grammophon lag,
    It’s a long way to Tipperary
    To the sweetest girl I know –
    »Noch vier Minuten!«
    Es ist der Abend des 1. September. Heute Morgen hat der Krieg gegen Polen begonnen. Und um Mitternacht wird Harro dreißig, ebenso der Gastgeber Herbert Engelsing, Herstellungsleiter bei der TOBIS-Filmgesellschaft.
    »Noch drei Minuten!«
    Viele Gäste drängen sich in der großen Wohnung der Engelsings draußen im Grunewald. Das Wohnzimmer ist zum Tanzen leergeräumt. Im Esszimmer ist ein Büfett aufgebaut. Die Sektgläser stehen gefüllt bereit.
    »Die Kriegsursachen sind doch nicht irgendwelche Staatsmänner. Wenn Idioten an der Spitze stehen, ist das doch kein Zufall.«
    »Jetzt bricht zusammen, was zusammenbrechen muss. Die Nazis werden hinweggefegt. Frankreich und England werden nicht länger zusehen – «
    Goodbye Piccadilly,
    Farewell Leicester Square!
    It’s a long long way to Tipperary –
    »Ganz Europa wird hinweggefegt werden, das sage ich euch. Der britische Imperialismus wird zusammenbrechen, und damit ist auch die Vorherrschaft Europas und der weißen Rasse zu Ende. Die europäische Lebensordnung wird hinweggefegt, oder das, was noch davon übrig ist.«
    »Noch zwei Minuten!«
    »Das Kolonialsystem wird zusammenbrechen, der Monopolkapitalismus, der diesen Krieg wollte. Danach wird man eine freie Gesellschaft schaffen. Eine Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung beruht.«
    »In einer Minute! Achtung!«
    »Dieser Krieg wird das alte Europa unter sich begraben.«
    Bis jetzt ist Tanzmusik gespielt worden. Jetzt nimmt jemand den Plattenarm vom Grammophonteller. Jemand hält eine Uhr hoch, beginnt zu zählen wie an Silvester.
    »Neun – acht – sieben – sechs – «
    Alles hat sich erhoben. Alles umdrängt Harro und den Gastgeber. Die letzten Gläser werden hastig verteilt.
    »Drei!«
    »Zwei!«
    »Hoch!«
    Libertas fliegt Harro um den Hals. Ingeborg Engelsing umarmt ihren Mann,
    Hoch soll’n sie leben!
    Hoch soll’n sie leben!
    Die Gefeierten werden umdrängt wie Helden. Gläser klingen, Augen leuchten, dann stimmt jemand die »Marseillaise« an. Die ersten zwei Zeilen: Weiter kommen sie nicht.
    »Libs!«
    »Wo ist Libs!«
    Libs ist die Rettung. Sie ist diejenige, die den Text kennt. Libs ist immer die, die alle Texte kennt.
    Contre nous de la tyrannie,
    L’étendard sanglant est levé –
    Jemand schiebt die Gläser beiseite. Harro und Herbert heben Libertas hoch, auf den Tisch.
    Aux armes, citoyens!
    »Alle mitsingen! Los, alle mitsingen!«
    Sie beginnen von vorn. Noch einmal. Und noch einmal. Jetzt können es die meisten,
    Allons enfants de la Patrie,
    Le jour de gloire est ARRIVÉ !
    Ingeborg Engelsing fasst ihren Mann am Arm.
    »Herbert? Ich fürchte, man kann uns draußen hören. Ich fürchte, wir holen uns die Polizei auf den Hals. Ich gehe mal eben hinaus auf die Straße.«
    Es ist eine milde Nacht. Die schweren Samtvorhänge vor den Fenstern dämpfen offenbar die Geräusche: Im Vorgarten hört man zwar noch schwach die Stimmen, aber ohne einzelneWorte zu verstehen. Ingeborg Engelsing tritt durch die Gartentür auf die Straße hinaus. Hier ist gar

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