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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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akzeptieren. Jeder neue Tag kommt, jeder Tag vergeht. Die Zeit hat ein ungeheures Gewicht. Jeder Moment hat Gewicht. Jeder Moment dröhnt, wie ein Bronzegong. Gestern hat er in der Bibel geblättert, aufder Suche nach einem Losungswort. Er hat auch eines gefunden. Er hat Jesaia 28, 16 aufgeschlagen,
    Wer glaubt, flieht nicht.
    Und aus welchen Tiefen entspringt der Impuls zu handeln, so und nicht anders zu handeln? In welche Fundamente ist der Pfeil gesetzt, der einem Menschen die Marschrichtung vorgibt, der ihm den Weg weist, von dem er nicht abweichen kann, ohne zu verzweifeln? Das schreibt Dietrich in sein Tagebuch. Er bildet sich nicht ein, die Antwort zu wissen. Er weiß gar nichts, nur dass er fort muss. Er kann seinen Helfern nicht erklären, welche Motive ihn treiben, er kann es sich selbst nicht erklären. Natürlich ist man ein wenig verstimmt. Man hat sich mit diesem Flüchtling alle nur erdenkliche Mühe gegeben, und nun ist Dietrich entschlossen, am Vorabend des heraufziehenden Krieges wieder nach Deutschland zurückzukehren,
    Wenn du mal nicht weißt, was du tun musst, dann tu das, was dir schwerer wird, es ist meist das Richtige.
    Das hat Dietrichs Lehrer Adolf von Harnack gelegentlich behauptet. Aber das ist Unsinn. Das Falsche zu tun ist nicht das Leichtere. Das Falsche zu tun ist unendlich schwer. Und welche Qual müsste es erst sein, das Falsche gewählt zu haben und dann ein Leben lang gewaltsam das Wissen darum unterdrücken, in jeder Lebensminute das schrille Gepfeife von Schuld und Versagen ersticken zu müssen? Welche Gewaltanwendung wäre das gegen das eigene Herz und Ohr, welche Selbstvernichtung, fast schon ein Selbstmord. Es wäre Selbstmord.
    Das Falsche zu tun ist ein Akt gegen das eigene Leben, der in der Richtung des Selbstmords liegt. Das weiß Dietrich jetzt.
    Paul Tillich geleitet Dietrich Bonhoeffer aufs Schiff. Tillich ist betrübt, er ist schweigsam. Dietrich ist ruhig. Er ist federleicht. Er verlässt Amerika. Er fährt heim. Dietrich, warum bist du zurückgekehrt? Warum bist du nicht in Amerika geblieben?
    Er ist in England, in Sydenham, wo er Station bei seiner Schwester Sabine und ihrer Familie gemacht hat. Der Aufenthalt geht dem Ende entgegen: In zwei Stunden wird Dietrich nach Deutschland abreisen.
    Warum bleibst du nicht auf meiner Seite der Welt? Warum bist du nicht in Amerika geblieben, wo ich dich auch in einem Krieg immer hätte erreichen können? Warum bist du nicht dortgeblieben als unser Wegbereiter, für den Fall, dass die Deutschen England erobern?
    Es hat aber keinen Sinn, diese Fragen zu stellen. Sabine Leibholz hat sie für sich behalten. Ihr Bruder hat seine Entscheidung getroffen, also gibt es nichts mehr zu der Sache zu sagen. Dietrich steht mitten im Zimmer. Er hat ihr zum Abschied ein Geschenk gemacht: eine prächtige indische Samtdecke von einem Londoner Flohmarkt, als Tagesüberwurf für ihr Bett, damit sie in der elenden Welt möblierter Zimmer etwas Schönes ihr Eigen nennen kann. Er hat alle seine Kleidungsstücke auf dieser Decke ausgebreitet: Er will sie hierlassen, für Gert. Sabine weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll.
    »Aber Dietrich. Du wirst doch auch in Deutschland Hosen brauchen.«
    »Dann kaufe ich mir eben welche. Gert hat die Sachen nötiger. Wer weiß, wann er wieder arbeiten kann. Außerdem ist es auch eine Befreiung für mich. Es ist wundervoll, leicht zu reisen.«
    Dietrich lacht. Das Fenster steht offen. Von unten klingen die Stimmen der Mädchen herauf, die auf dem englischen Rasen der Pension von Miss Sharp spielen. Der Garten hängt noch immer voller Rosen.
    »Ich bin so froh«, sagt Dietrich. »Denk nur, wenn der Kriegschon ausgebrochen wäre, hätte ich es vielleicht gar nicht mehr nach Hause geschafft. Das wäre furchtbar gewesen.«
    »Aber was wirst du nun tun? Was tust du, wenn es zum Krieg kommt?«
    »Ich werde sehen. Vielleicht eröffnen sich Möglichkeiten im Sanitätsdienst. Ich werde jedenfalls nicht für Hitler kämpfen. Ich bin kein Pazifist, aber auf der falschen Seite zu kämpfen ist nicht erlaubt.«
    Sabine sieht ihn an, ihren Zwillingsbruder, diesen großen, breiten, vitalen Mann. Er sieht vollkommen anders aus als sie selbst, die dunkle, schmale Sabine. Aber wenn sie ihn ansieht, ist es ihr, als sähe sie sich selbst, ihr eigenes Spiegelbild.
    »Und wirst du es auch nicht bereuen, Dietrich?«
    »Ich darf es nicht bereuen. Sieh mal, wenn ich mich jetzt gedrückt hätte, dann hätte ich mir doch später

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