Wer wir sind
bilde ich mir ein, an eine bessere Welt glauben zu müssen, an eine gerechtere Zukunft?«
Hilde streichelt seinen Arm.
»Du könntest vielleicht noch einmal die Schule besuchen«, sagt sie.
Hans schweigt einen Moment.
»Ich weiß nicht«, sagt er dann. »Ich glaube, das ist Unsinn. Ich glaube, ich bin zu alt dafür.«
»Du bist erst dreiundzwanzig«, sagt Hilde. »Und du sollst ja gar nicht wieder aufs Gymnasium gehen. Aber es gibt doch Abendschulen. Du könntest dort das Abitur nachmachen.«
»Noch einmal Fremdsprachen büffeln«, sagt Hans. »Noch einmal Goethe, Schiller und Hölderlin. Sich noch einmal all den bildungsbürgerlichen Ballast aufladen. Nein, ich mag meine Zeit damit nicht mehr verplempern. Ich möchte praktische Dinge tun. Dinge, die einen Nutzen haben.«
Die Sonne ist untergegangen, aber es ist immer noch warm.
»Eine Technikerschule vielleicht«, sagt Hans. »Ich könnte eine Technikerschule besuchen. Ich muss darüber nachdenken. Aber im Grunde. Warum nicht.«
Hilde hat ihre Brille abgenommen. Aber sie sieht, wie Hans sie ansieht. Sein Blick ist wie eine Decke, die Hilde sich um die Schultern zieht. Sie weiß, dass sie an Hans’ Seite nichts zu fürchten hat.Harro und Libs haben neuerdings darüber nachgedacht, dem Großstadtleben den Rücken zu kehren. Sie haben ernstlich mit dem Gedanken gespielt, hinauszuziehen in irgendeine schöne ländliche Gegend, Bücher zu schreiben, zu reisen und womöglich doch ein Kind zu bekommen. Harro war bei der Gestapo vorgeladen, weil Werner Dissel, ein alter Kumpel aus ›gegner‹-Zeiten, wegen bündischer Umtriebe und kommunistischer Zersetzung verurteilt worden ist.
Das ist es allerdings nicht, was Harro wurmt. Es ging ja wie immer alles gut aus. Aber Harro ist im Ministerium nicht glücklich. Natürlich klingt es großartig: Abteilung fremde Luftmächte. Es klingt glamourös. Aber tatsächlich ist der Verdienst schlecht, es gibt sehr viel Arbeit, und direkte nachrichtendienstliche Erkundigungen obliegen nicht etwa dem Reichsluftfahrtministerium, sondern der Amtsgruppe Abwehr der Wehrmacht unter Admiral Canaris. Harros Abteilung kann nicht viel mehr tun, als sich aus Zeitungen und Büchern über die Stärke der ausländischen Luftrüstung zu informieren. Harro ist unzufrieden. Er ist unterfordert, unterbewertet, unterbezahlt, und warum soll er sich unter diesen Umständen abarbeiten? Libs schreibt Filmkritiken, sie fotografiert. Harro hat seine Übersetzungen, die ihm einiges einbringen. Vielleicht wäre ein Leben auf dem Land wirklich eine Alternative. Sie könnten ein Bauernhaus in Meeresnähe beziehen und einen Gemüsegarten anlegen. Wie wäre es mit Schleswig-Holstein? Libertas zieht es sowieso immer hinaus in die Natur.
Sie hat sich für ein paar Juliwochen in Nidden auf der Kurischen Nehrung bei einem Fischer eingemietet, ganz in der Nähe des verlassenen Ferienhauses von Thomas Mann. Sie will ein wenig zur Ruhe kommen, in der Natur neue Kraft schöpfen und endlich ihr Buch schreiben. Welches Buch, was soll darin stehen?
Libs weiß es genau, solange sie nicht schreibt. Solange sie nicht schreibt, ist die Geschichte fertig. Sie flimmert, sie lebt, sie ist voll Witz und voll Tiefe. Die Figuren funkeln, sie vibirieren vor Lebendigkeit, Heiterkeit und Melancholie. Liebe und Schmerz, Trauer und Freude, Geburt und Tod sind aufs Wundervollste miteinander verwoben. Dann setzt sich Libs hin, und alles ist weg. Sobald das weiße Papier vor ihr liegt, besteht die ganze Welt aus Papier, und Libs steht vom Schreibtisch auf und wandert in die Dünen.
Warum will sie aber auch unbedingt ein Buch schreiben? Es muss doch gar nicht sein. Libs verdient gut mit ihren Filmkritiken. Sie verdient mehr als Harro. Sie schwimmt im Meer, weit hinaus. Während sie schwimmt, überlegt sie, was sie nach dem Schwimmen tun könnte. Sie kauft geräucherten Fisch an einer Fischerhütte und lacht mit dem jungen Fischer, den sie bezaubert. Was, wenn sie hierbliebe?
Harro fehlt ihr. Sie geht am Strand entlang, dann wandert sie in den Bruch hinein. Wird sie vielleicht einen Elch sehen? Sie malt sich aus, wie es wäre, mit dem jungen Fischer zu leben. Es wäre ein Dasein, so simpel wie Brot. Ein Leben, bestimmt vom Rhythmus der Jahreszeiten, von Ebbe und Flut. Es wäre Harmonie, Geborgenheit, Frieden. Wie wundervoll. Nur müsste eben auch Harro dabei sein. Die Freunde müssten zu Besuch kommen. Man müsste wenigstens hin und wieder einmal nach Liebenberg fahren können.
Bei
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