Wer wir sind
alten polnischen Führer sollen getötet und die Entstehung einer neuen Führerschicht rücksichtslos verhindert werden. Der Volkstumskampf verlangt Chaos und Gewalt: Posen und Westpreußen sollen auf Befehl der höchsten Stellen schon in wenigen Jahren wieder deutsches Land sein. Ein Wort macht die Runde, das Ulrich von Hassell zugetragen worden ist: Hitler soll den Generalgouverneur der besetzten Gebiete Hans Frank aufgefordert haben, in Polen das Werk des Teufels zu verrichten und bis zum Ende durchzuführen. Auch Oberbefehlshaber Walter Brauchitsch soll von diesem furchtbaren Wort wissen. Er soll Abwehrchef Canaris gegenüber davon gesprochen haben, dass sich ein Blutrausch im Osten austobe.
»Mag sein, dass er das gesagt hat«, sagt die geschiedene Frau von Generalfeldmarschall Brauchitsch zu Ulrich von Hassell. »Dennoch. Mein Exmann ist für Ihre Zwecke unbrauchbar. Meine Nachfolgerin ist eine zweihundertprozentige Nazisse, und sie hat ihn fest in der Hand.«
Ulrich von Hassell würde ihr so gern nicht glauben. Er istder angeheiratete Onkel von Harro Schulze-Boysen: 1911 hat er Alfred von Tirpitz’ Tochter Ilse geehelicht, die Cousine von Harros Vater. Im Weltkrieg war er Mitglied der rechtsradikalen Deutschen Vaterlandspartei, die sein Schwiegervater mitgegründet hatte. Danach sind sie alle in die Deutschnationale Volkspartei eingetreten. 1938 ist Hassell während der Blomberg-Fritsch-Krise im Rahmen der Umgestaltung des Auswärtigen Amtes als Botschafter in Rom abberufen worden. Und nun überlegt er zusammen mit Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, ob man nicht Hitler entfernen und Göring an die Spitze hieven könnte. Aber im Grunde ist längst alles verloren.
Es ist Krieg. Es ist zu spät. Am 5. November rafft sich der Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch auf. Er tritt vor Hitler. Es geht ihm nicht darum, das Morden in Polen zu unterbinden. Es geht ihm um Deutschland: Er will den Führer von einem Angriff auf den Westen abbringen, von dem geplanten Überfall auf Belgien und einem Durchmarsch durch Holland nach Frankreich. Hitler kanzelt ihn ab wie einen Jungen. Er stößt wilde Drohungen aus.
» – rücksichtslos vernichten, was sich mir in den Weg stellt, Geist von Zossen vernichten – «
Hat er womöglich Wind davon bekommen, dass ihm seine Offiziere nicht durch die Bank wohlgesinnt sind? Den Oberbefehlshaber beschleicht kaltes Grausen. Zusammen mit seinem Stellvertreter Halder macht er sich schleunigst daran, alle Pläne für den Staatsstreich zu vernichten.
Georg Elser weiß davon nichts. Er ist ein süddeutscher Handwerker, kein preußischer Militär. Er war Mitglied der Holzarbeitergewerkschaft. Er hat früher, als dergleichen noch möglich war, kommunistisch gewählt. Aber er ist Christ, er gehtsonntags in die Kirche. Er war Mitglied des Heimatvereins, und er spielt die Zither, aber das Gequatsche von Volksgemeinschaft, Rasse und Blutreinheit prallt vollkommen an ihm ab. Wenn er um sich blickt, muss er allerdings feststellen, dass er ziemlich allein dasteht.
Er allein scheint wach zu sein, bei Bewusstsein. Die anderen haben alle glasige Augen. Sie sind hypnotisiert, sie sind Schlafwandler: Es scheint ihnen nicht viel auszumachen, dass die Arbeiterklasse ihrer mühsam erkämpften Rechte beraubt wird. Sie nehmen es nahezu klaglos hin, dass die Löhne immer schlechter werden, dass ein Arbeiter nicht mehr frei seinen Arbeitsplatz wählen kann und dass die HJ Anspruch auf seine Kinder erhebt. Aber der wirkliche Schrecken steht Deutschland erst noch bevor. Ein großer Krieg ist in Planung. Nur Hitlers Tod kann das Land noch retten.
Elser ist ein einfacher Mann. Er glaubt, dass man das, was man als richtig erkannt hat, auch tun muss. Er sagt zu keinem Menschen ein Wort. Wozu andere gefährden? Wozu delegieren, was man selbst tun kann? Er arbeitet ein paar Monate lang in einem Steinbruch, um sich Sprengstoff zu besorgen. Dann zieht er nach München und beginnt mit der Konstruktion der Bombe. Ab Ende August isst er jeden Abend im Bürgerbräukeller eine einfache Mahlzeit, versteckt sich dann in der Besenkammer und wartet, bis das Gasthaus geschlossen ist. Dreißig Nächte braucht er, um die Holzsäule auszuhöhlen, in der die Bombe versteckt werden soll.
Wie muss es gewesen sein, all die Monate lang so zu leben, allein mit sich selbst, herausgenommen aus dem Alltag, ganz erfüllt von der Mission, getragen Tag und Nacht vom
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