Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
Vom Netzwerk:
nichts mehr zu hören. Ingeborg geht am Haus entlang, biegt dann in die Seitenstraße ein, die an der Längsseite des Gartens hinunterführt, es ist sehr still. Ist der Gesang verstummt? Es ist sehr dunkel: Aus den Fenstern der Grunewaldvillen fällt kein Lichtstrahl. Ingeborg bleibt stehen.
    Deutschland ist im Krieg. Die Leuchtreklamen sind abgeschaltet. Still breitet sich die erloschene Stadt unter dem klaren Nachthimmel hin. Man kann die Sterne sehen, am Himmel über Berlin. Klar, feierlich, kalt. Sehr, sehr weit weg. Ingeborg Engelsing versucht, nicht zu weinen.
    Elisabeth Schumacher ist in Meiningen, bei der ungeliebten Verwandtschaft. Sie ist bei den Eckolds, der Nazi-Familie der Mutter. Es gibt Brot. Es gibt Schmalz, Gurken, Wurst. Es gibt genug zu essen, trotz der neu ausgegebenen Lebensmittelkarten. Hier auf dem Land wird es immer genug zu essen geben. Aber natürlich müssen die Karten sein.
    Das sagt Elisabeths Tante. Es geht ja nicht, dass die, die morgens schon kommen, den anderen alles wegkaufen können. Die Karten müssen sein, der Krieg muss sein. Niemand hier ist vom Krieg begeistert. Aber der Einmarsch in Polen war unvermeidlich. Das müssen doch auch die Engländer einsehen. Die Krise um Danzig hatte sich unerträglich zugespitzt, was hätte der Führer denn tun sollen? Die Polen haben eineinhalb Millionen Menschen unter Waffen genommen und an die Grenze geschafft. Wer behauptet, die deutsche Führung hätte gezielt auf den Krieg mit Polen hingearbeitet, der ist ein Verräter und ein Lump: So geht es den ganzen Tag. Die Tanten haben Angst. Einmal mehr hat sich die ganze Welt gegen Deutschland verschworen. Frankreich und Großbritannien haben dem Reichden Krieg erklärt, Australien, Indien, Neuseeland, Kanada und Südafrika.
    »Was hat die Welt denn nur gegen uns? Was hat man im Ausland nur gegen das arme Deutschland?«
    Hilde sitzt mit der Mutter und deren Lebensgefährten Erwin beim Abendessen am Küchentisch, als ein langgezogenes Heulen den Raum erfüllt. Sirenen. Sie starren einander an. Dann springt Erwin auf.
    »Fliegeralarm! Das ist Fliegeralarm. Feindliche Flugzeuge sind im Anflug auf Berlin.«
    Er stürzt zum Fenster und reißt es auf. Das Geheul schwillt an. Draußen vor dem Fenster liegt die Straße. Der Himmel über Berlin ist leer.
    »Wir müssen in den Keller«, sagt Erwin.
    »In den Keller?«, sagt die Mutter. »Aber Erwin. Das ist doch lächerlich.«
    »Wir müssen in den Keller«, sagt Erwin. »Es ist verboten, bei Luftalarm in der Wohnung zu bleiben.«
    »Das ist doch Unsinn. Das kann man nicht verlangen. Ich bin ein kranker Mensch. Im Keller würde ich mir den Tod holen.«
    »Wo ist überhaupt die Luftschutztasche?«, sagt Erwin.
    »Was?«
    »Die Luftschutztasche. Sag nicht, ihr Frauen habt keine Luftschutztasche gepackt.«
    Erwins Entrüstung ist echt. Die Mutter ist verschreckt. Was hat der Feind überhaupt in Berlin verloren? Der Feind gehört nicht nach Berlin. Er gehört dorthin, wo die deutschen Soldaten sind: an die Front.
    »Gut«, sagt die Mutter. »Dann gehen wir eben in den Keller. Es ist natürlich lächerlich. Du wirst sehen, wir werden dort ganz allein sein.«
    Aber sie irrt. Der Keller ist voll. Alle hocken sie da, komplett mit Gasmasken. Gleich vorn an der Tür steht Bauer, der Luftschutzwart.
    »Na, Frau Rake. Da sind Sie ja endlich. Wo ist denn Ihr Luftschutzgepäck?«
    »Schaut mal! Ein Flieger!«
    Der kleine Walter aus dem dritten Stock steht am Kellerfenster. Das Kellerfenster liegt oberirdisch. Es ist offen, schließlich riecht es muffig hier unten. Erwin tritt neben Walter. Es stimmt. Hoch oben am Himmel schwebt jetzt ein einsames Flugzeug. Es blitzt einmal auf, in der Abendsonne, dann dreht es ab.
    »Ist das der Feind?«, sagt der kleine Walter.
    »Nee«, sagt Erwin. »Glaube ich nicht.«
    Bauer steht jetzt auch dabei.
    »Bestimmt ist das einer von unseren«, sagt er. »Sonst würde unsere Flak doch schießen.«
    Wieder heulen die Sirenen auf. Es ist aber ein anderer Ton.
    »Und jetzt? Was ist das jetzt?«
    »Gar nichts. Entwarnung.«
    Der Spätherbstwind rührt die See auf wie ein Schneebesen. Regen fällt, in langen grauen Schnüren, dann wieder gibt es Tage voll eines wechselnden unsicheren Sonnenscheins, wo es an den geschützten Stellen unten an der Seepromenade so warm wird, dass sich die Leibholzens auf eine der Bänke setzen können. Sie sind aus London weggezogen. Sie wohnen nun im Süden Englands, am Meer, in einem kleinen Ort namens St.

Weitere Kostenlose Bücher