Wer wir sind
Leonards-Hastings.
Sabine hat inzwischen sehr viel gelernt. Sie weiß nun, dass man Engländer nicht gleich zu Anfang einer Bekanntschaft nach ihrem Beruf fragen darf, dass Engländerinnen nicht lobendüber die eigenen Kinder sprechen und dass die Tür einer nicht besetzten Toilette immer einen Spalt offenstehen muss, weil es sich nicht gehört, an einer geschlossenen Toilettentür zu rütteln. Sie kommt zurecht. Sie lebt sich ein. Und ist es nicht schön, an der See zu wohnen? Es ist doch fast wie Urlaub. Vielleicht kann man das Flüchtlingsdasein auch so auffassen: wie eine lange Reise mit sehr geringem Budget. Für Gert ist es allerdings eine Reise, die ein Leben ersetzen soll, eine Karriere, seine Lebensleistung. Und nun befinden sich England und Deutschland im Krieg.
Jedenfalls ist der Krieg erklärt. Geschehen ist bis jetzt noch nichts. Die Engländer sind weiterhin freundlich. Sie nehmen es Gert nicht übel, dass er jüdischer Abstammung ist. Sie nehmen es den Leibholzens nicht übel, dass sie Deutsche sind. Sie laden die Deutschen nicht in ihre Häuser ein, aber sie sind höflich, sie grüßen auf der Straße, die Leibholzens sind zum Glück auch nicht die einzigen Deutschen hier.
George Bell, der Bischof von Chichester, hat im Villenviertel von Hastings aus seinen Privatmitteln eine schöne alte Villa gemietet, in der er vierzig jüdischstämmige deutsche Pfarrer mit ihren Familien untergebracht hat. Sabine ist regelmäßig in der Bellschen Villa in Hastings zu Besuch, schon damit Marianne und Christiane Spielgefährten haben. Die Villa ist ein typisch englisches Haus, schön, aber unpraktisch. Zentrale Öfen gibt es nicht. Vor den offenen Kaminen wird man von vorn gegrillt, von hinten vereist. An einem englischen Waschbecken befinden sich immer zwei Wasserhähne: einer für heißes und einer für kaltes Wasser, so dass man sich die Finger entweder verbrüht oder erfriert, natürlich sind diese Dinge Lappalien. Die wirkliche Sorge nennen weder die Leibholzens noch die Familien der Pfarrer in der Villa gern beim Namen: Alle haben Angst, dass die Deutschen gewinnen könnten.
Alle haben Angst vor der deutschen Invasion Englands: davor, ihre Muttersprache am Strand von Hastings zu hören, aus den Mündern von Soldaten. Sabine geht fast jeden Tag mit den Kindern an den Strand. Man muss das Leben von Tag zu Tag nehmen. Die Kinder suchen im nassen Sand nach Muscheln, bunten Steinen. Sabine hat ihnen versprochen, dass sie ihnen im Sommer das Schwimmen beibringen wird. Christiane hat sich gefreut. Sie hat gequengelt: Wann ist denn Sommer?
Marianne hat die Mutter zweifelnd betrachtet.
»Im Sommer«, hat sie gesagt. »Jetzt ist ja noch nicht einmal Weihnachten. Meinst du wirklich, im Sommer sind wir noch hier?«
Hans von Dohnanyi ist Sonderführer des Amtes Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht am Tirpitzufer. Gerade noch rechtzeitig vor Ausbruch des Krieges hat der Leiter der Zentralabteilung und Chef des Stabes im Mobilisierungsfall Hans Oster seinen Freund für das Amt angefordert. Hans wird Abwehrchef Canaris persönlich zuarbeiten. Er ist damit uk-gestellt, unabkömmlich: Man kann ihn nicht mehr an die Front schicken. Die Dohnanyis sind von Leipzig zurück nach Berlin gezogen. Sie wohnen bei Christels Eltern: nicht in dem alten Haus in der Wangenheimstraße, das die Eltern längst verkauft haben, sondern in der Marienburger Allee 43 in Berlin-Charlottenburg. Im Haus nebenan wohnt Christels Schwester Ursel Schleicher mit ihrer Familie.
Christel hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie einander noch einmal dermaßen bebrüten würden. Die Dohnanyis wohnen im Haus der Eltern wie in einer Sardinenbüchse, zu fünft in den zwei kleinen Zimmern, die einst Oma Julie beherbergt haben.
Wieder ist ein Abschnitt des Wegs zurückgelegt. Aber wasist das Ziel der Wanderung? Wieder ist ein Kapitel abgeschlossen: Aber zu welchem Roman werden sich die Kapitel am Ende summieren?
Hans steht nun wieder mitten im Zentrum. Seine politische Abstinenz nach dem missglückten Putsch im Herbst 1938 hat ohnehin nur ein paar Wochen angehalten. Schon nach den Pogromen hat er wieder an den Donnerstagstreffen von Hans Oster und Ludwig Beck teilgenommen. Und nun hat der Krieg sie alle enger denn je zusammengeführt.
Der furchtbare Krieg: Angeblich werden in Polen auf Anordnung von höchster Stelle Zivilisten erschossen. Es soll keine Konsolidierung der Verhältnisse geben, keine Rückkehr des Rechts, keinen Frieden. Die
Weitere Kostenlose Bücher