Wer wir sind
Glauben, das Richtige zu tun? Wie muss es gewesen sein, die Schritte zu durchdenken, den Plan zu entwerfen, dann Stück für Stück, Schnipsel für Schnipsel die aufkommenden Probleme zu lösen:Wie kann man ihn töten? Mit einer Bombe. Wie kann man die Bombe in seiner Nähe platzieren, wie den richtigen Moment abpassen? Und dann immer tiefer zu gehen, immer genauer zu planen, immer mehr in die Details einzudringen, nachts wachzuliegen oder unter abgeblendeter Lampe wachzusitzen, versunken in eine einzige, winzige Frage: das Häkchen im 90- oder 95-Grad-Winkel? Fragen, die nichts mehr mit dem großen Plan, nichts mehr mit Politik zu tun haben, nichts mehr mit der Suche nach Richtig und Falsch, weil all das ja bereits geklärt ist, so dass man es nun vergessen, begraben kann unter dem Zunächstliegenden: 90- oder 95-Grad-Winkel? Den Draht straff gespannt oder um die Schraube gewickelt?
Die Attentatsplanung ist nun Alltag, Regelmäßigkeit, Künstlerbesessenheit. Sie besetzt ihn so, dass er darüber vergisst, was er vorhat: den großen Krieg zu vermeiden mit Millionen von Toten. Im Verlauf der Tage, der Stunden, der Minuten schrumpft dies Gewaltige zusammen auf die sachlichen Überlegungen des Handwerks. 90- oder 95-Grad-Winkel? Den Draht straff gespannt oder um die Schraube gewickelt? Er kauft ein paar Semmeln, er holt Milch. Er ist unverändert freundlich, freundlich zu allen Menschen.
Die Mädchen sehen ihm nach: Er ist ein gutaussehener Mann Mitte dreißig, schlank und gelenkig, kräftig, das Haar dicht und dunkel, die Brauen schön geschwungen. Und wie er geht, und wie er schaut: versunken, wie nicht von dieser Welt, getrennt von den anderen Menschen durch eine unsichtbare Membran, die ihn vollständig abschließt und die erst die Folter der Gestapo durchstößt.
Wie hat er die Folter, die Haft, die vollständige Isolation ertragen, in der er leben wird, bis man ihn kurz vor Kriegsende ermordet?
Wie hat er den Fehlschlag ertragen?
Es ist eine große Gemeinheit. Elsers Arbeit war perfekt, sie war fehlerlos. Die meisten Attentate scheiterten an den Schludrigkeiten der Attentäter. Aber dieses nicht. Was in Georg Elsers Hand gelegen hat, ist ohne Tadel, sein Plan läuft wie geölt. Die Bombe soll explodieren, während Hitler wie immer am Abend vor dem Jahrestag seines missglückten Putschversuchs vom 9. November 1923 im Bürgerbräu spricht. Und sie explodiert, exakt zur vorgesehenen Zeit und mit vollkommen ausreichender Gewalt: Das Dach stürzt ein, das Lokal ist verwüstet. Es gibt acht Tote und zahlreiche Verletzte. Aber Hitler ist nicht darunter. Das Wetter ist schlecht, das Flugzeug kann nicht starten. Hitler wollte den Nachtzug nach Berlin noch erwischen, deshalb hat er den Saal dreizehn Minuten vor der Explosion verlassen.
Der Münchner Bodennebel also ist schuld an der Vernichtung der europäischen Juden, an über fünfzig Millionen Toten, an Flucht, Vertreibung, der Teilung Deutschlands, den Opfern an der Mauer und der jahrzehntelangen Unterdrückung Mittel- und Osteuropas durch die Sowjetunion. Der ›Völkische Beobachter‹ feiert in großer Schlagzeile die wunderbare Errettung des Führers. Die Deutschen sind ergriffen, tief berührt vom rettenden Eingriff der göttlichen Vorsehung. Und in der Reichshauptstadt läuft ein neuer Witz um: Jemand habe eine Gedenktafel in den Ruinen des Bürgerbräukellers aufgestellt.
Dem leider zu früh Heimgegangenen
Es ist Krieg. Es ist Advent. Dietrich Bonhoeffer hat die Betreuung der Sammelvikariate auf dem Sigurdshof und in den pommerschen Wäldern wieder aufgenommen. Er teilt sein Leben zwischen Pommern und Berlin, wo er im Haus der Eltern in der Marienburger Allee 43 wohnt, Wand an Wand mit seiner Schwester Christel und ihrem Mann Hans von Dohnanyi,Haus an Haus mit seiner Schwester Ursula und ihrem Mann Rüdiger Schleicher. Hans, Christel und Dietrich sitzen in Dietrichs Zimmer.
»Und kannst du dir eine Welt vorstellen, in der das, was Oster getan hat, nicht als Verrat bezeichnet wird?«
Verrat. Das Wort klingt dumpf, hohl. Es ist ein hallendes Rohr, das in eine andere Zeit führt, ins Mittelalter oder zu Shakespeare oder womöglich zu den alten Germanen,
Vom Verräter frisst kein Rabe –
Hans raucht seine vierzigste Zigarette.
»Ist es denkbar, dass man uns das je verzeiht?«
Hans Oster hat dem niederländischen Militärattaché, seinem alten Freund Major Sas, den Termin verraten, zu dem Deutschland die Niederlande überfallen will.
»Er hat sich
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