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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.
    Mildred steht an Deck.
    Bald hat die Fahrt ein Ende. Mildred wird von nun an Deutsch sprechen. Sie sagt sich stumm die Verse des »Prologs« aus dem ›Faust‹ vor, die ihr überaus passend erscheinen, jetzt am Ende ihrer Überfahrt,
    Die Sonne tönt, nach alter Weise,
    In Brudersphären Wettgesang,
    Und ihre vorgeschriebne Reise
    vollendet sie mit Donnerklang.
    Nun, vielleicht geht es auch etwas leiser. Mildred gedenkt, kein unnötiges Getöse zu machen. Sie ist bereit. Sie hat gepackt. Sie kann sofort von Bord gehen. Sie bringt nicht viel mit: eine Kiste voller Bücher, zwei Koffer, die so leicht sind, dass sie sie allein tragen kann. In weniger als zwei Stunden wird sie ihren Fuß auf den Boden des fremden Landes setzen. Arvid wird sie am Hafen erwarten. Sie wird ihn umarmen. Und wenn sie das nächste Mal den Kopf hebt und um sich blickt, wird alles Vorhergehende an Bedeutung verloren haben.
    Die Erinnerung an ihre Reise, die angeregten Kontakte, die sich auf langen Schiffsfahrten so erstaunlich schnell einzustellen pflegen, die verträumten Stunden im Liegestuhl, das geschäftige Treiben in den Salons und das gleichförmige Schwappen und Aufstäuben der Wellen am Bug: All das wird zu verblassen beginnen und immer mehr verblassen, vor den großen Erlebnissen, die auf sie warten. Es wird immer fernerins Unwirkliche entgleiten, ein Geschehnis jenseits der Zeitenwende: Und dann wird eines Tages nichts mehr davon geblieben sein. Es wird sich aufgelöst haben, gänzlich und ohne jeden Rest.
    Die Gedenkstunde hat noch nicht begonnen. Die Stimmen sind gedämpft, wie es dem Anlass entspricht. Es ist viel Prominenz gekommen, aus Wissenschaft, Politik, dem öffentlichen Leben. Vorn in der ersten Reihe sitzen Amalie von Harnack und Lina Delbrück, die Schwestern und Nachbarinnen. Die Witwen: Sie haben die Hände im Schoß gefaltet. Sie halten sich sehr aufrecht. Sie haben beide ihre Männer verloren: Am 14. Juli 1929 ist Hans Delbrück gestorben, und nun, keine zwölf Monate später, sein Schwager Adolf von Harnack. Durch die geöffneten Fenster des Goethe-Saals strömt der Duft der Lindenblüten herein.
    Arvid unterhält sich leise mit Adolf Grimme, dem preußischen Kultusminister. Grimme ist Sozialdemokrat. Er ist ein Parteifreund von Arvids Vetter Ernst, aus dem Bund religiöser Sozialisten. Ernst hat Grimme und Arvid vorhin miteinander bekanntgemacht. Nun erläutert Grimme, was er unter religiösem Sozialismus versteht.
    »Wirken für den Frieden, für die Völkerverständigung. Man könnte sagen, wir bemühen uns um ein Verständnis des Sozialismus im Licht seines religiösen Sinns. Oder um das Verständnis des Christentums, im Licht seines sozialen Sinns. Jeden Christen muss doch die kalte Gleichgültigkeit des Kapitalismus gegen das von ihm verursachte Elend erschrecken. Die Selbstverständlichkeit, mit der über die Güter der Erde verfügt wird.«
    »Sie nehmen unter anderem Bezug auf das 3. Buch Mose, wenn ich recht verstehe«, sagt der Theologe Hans Lietzmann,der neben Grimme steht. » Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer. Denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Gäste bei mir.«
    »Das würde meiner Frau gefallen«, sagt Arvid. »Mildred? Es klingt wie eine Stelle bei Emerson. Du weißt sicher, welche ich meine.«
    Sie weiß es genau.
    The charming landscape which I saw this morning, is indubitably made up of some twenty or thirty farms. Miller owns this field, Locke that, and Manning the woodland beyond. But none of them owns the landscape.
    Mildred und Arvid leben erst seit ein paar Monaten in Berlin. Sie haben zum ersten Mal eine eigene Wohnung. In Jena, dann in Gießen haben sie in kleinen möblierten Studentenbuden gewohnt. Mildred war am Anfang vor allem damit beschäftigt, Deutsch zu lernen. Sie hat natürlich schon in Amerika sehr gut Deutsch gesprochen. Aber es ist anders, eine Sprache im Ausland zu erlernen. Zu Hause übersetzt man nur das Eigene, ohne zu bemerken, wie fremd das Fremde tatsächlich ist. Mildred in Amerika hat sich nicht vorstellen können, was in Deutschland auf sie zukommen würde.
    An manchen Tagen geht alles sehr gut. Mildred sagt sich, dass dies die Mehrzahl der Tage ist. An diesen Tagen tritt sie morgens auf die Straße hinaus und fühlt sich im Einklang mit der deutschen Welt. Sie genießt dann die Freiheiten deutscher Studenten, die keine

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