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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Pflichtseminare kennen, keinen Anwesenheitszwang, und die Universität können sie wechseln, wann immer sie möchten. Natürlich sind die Harnacks durch die finanzielle Situation etwas eingeschränkt. Arvid ist bestrebt, seine Karriere auf ein breites Fundament zu gründen, und das braucht seine Zeit. Mildred und Arvid müssen sich ihrer bescheidenen Lebensumstände aber nicht schämen.Hier in Berlin am Rande des Kreises der großen Professorenfamilien stellt Geld allein noch keinen Wert dar. Hier mitten im alten Europa, wo die gediegenen Professorenmöbel sich von Generation zu Generation vererben, wo die Gespräche bei Tisch um Philosophie, Theologie, Literatur und Kunst und nach Tisch um Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kreisen, wo jedes Kind selbstverständlich ein Instrument erlernt und man den Kleinsten an ihren Bettchen zur guten Nacht Goethe vorliest: Hier misst man der Höhe der Aktienkurse nicht quasireligiöse Bedeutung bei. Hier zählen Bildung, geistige Durchdringung und Anstand mehr als ein Reichtum, der seinen sittlichen Verpflichtungen nicht nachkommt. Hier genügt es nicht etwa, sich zu fragen, ob das, was man erzählen möchte, hinreichend interessant ist. Man muss auch erwägen, ob es nicht womöglich zu interessant ist, so dass die Zuhörer zu dem Schluss gelangen könnten, man hätte sich prahlerisch herausstellen wollen.
    Einfach leben, anspruchsvoll denken: Das ist das Motto, unter das auch Mildred ihr Leben mit Stolz stellen kann. An guten Tagen fühlt sie, wie mühelos sie hineinschmilzt in die Form, die ihr das Leben vorgibt. Sie freut sich dann ihrer Schmiegsamkeit, der Gewandtheit, mit der sie sich den Sitten und Gebräuchen anpasst, der Kompetenz, mit der sie die vielfältigen Aufgaben und Anforderungen ihrer Arbeit, ihres Privatlebens erfüllt. Die guten Tage sind so.
    Es gibt aber auch andere Tage. Dann fühlt sie sich wie ein runder Pflock in einem eckigen Loch. Wie der sprichwörtliche wunde Daumen in der amerikanischen Redewendung, der in einem unmöglichen Winkel absteht: auffällig, gefährdet, womöglich gebrochen, während sich alle anderen Finger aufs Artigste aneinanderschmiegen. Es liegt nicht an Arvids Familie. Mildred ist von allen sehr herzlich willkommen geheißenworden. Aber an den fremden Tagen hilft ihr das nichts. Sie kann dann überhaupt nichts tun. Sie kann nur warten, dass es vorübergeht. Sie kann sich nur sagen, dass sie sich irrt: Sie ist nicht die Fremde. In Wirklichkeit ist sie nicht heimatloser auf diesem Stück Erde, das Deutschland genannt wird, als all die hier Geborenen, die in behäbiger Selbstsicherheit durch ihr Land schreiten ohne den geringsten Zweifel an ihrer Daseinsberechtigung, ohne auch nur ein Quäntchen jenes eigentümlichen Heimwehs, das unter gebildeten Menschen Philosophie genannt wird.
    Inzwischen haben die meisten Trauergäste Platz genommen.
    Auch die Harnacks haben sich gesetzt. Clara Harnack sucht die Hand ihres Ältesten. Arvid drückt ihre Finger. Mildred auf Arvids linker Seite beugt sich ein wenig vor. Sie sieht zu ihrer Schwiegermutter hinüber, mit dem Hauch eines Lächelns, fragend hochgezogenen Augenbrauen. Clara deutet ein Nicken an.
    Mildred nickt zurück und lässt sich wieder in ihren Sitz sinken. Clara ist froh über diese Schwiegertochter. Sie passt sehr gut zu Arvid. Sie ist blond wie er, hell wie er, sie teilt seine Interessen. Etwas altmodisch Romantisches umweht sie, das Arvid sehr angezogen haben muss.
    Auch Falk liebt seine Schwägerin.
    Arvids kleiner Bruder: der schlaksige Siebzehnjährige zu Claras rechter Seite, er ist das jüngste der vier Harnack-Kinder. Zu dieser Gedenkstunde ist er von seinem Internat in Weimar beurlaubt worden. Falk presst die feinen Lippen aufeinander. Er fingert nervös an seinen Manschetten, genau wie sein Vater es immer getan hat. Falk weiß das natürlich gar nicht. Er weiß nicht, ob er seinem Vater ähnelt. Er hat keine Erinnerung an ihn. Er fragt nie nach ihm: Er sieht in allem zu Arvid auf.
    Der Saal ist nun ganz besetzt.
    Die Verwandtschaft ist vollständig versammelt: die Mitglieder der vielfach miteinander verflochtenen Familien der Harnacks, Delbrücks, Bonhoeffers und Dohnanyis, die im Professorenviertel des Grunewalds wohnen. Röcke rauschen, hier und da räuspert sich jemand. Dann wird es still. Das Streichquartett spielt das Adagio aus Haydns ›Quartett in g-Moll‹. Die Gedenkstunde beginnt.

2
    Es ist der Sommer 1913. Hans von Dohnányi ist elf Jahre alt. Er liegt in

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