Wer wir sind
seinem Bett. Er kann aber nicht schlafen. Das liegt an der Stille: an der schlimmen, tonlosen Stille, die alles erfasst hat, Hans hat extra das Fenster seines Zimmers geöffnet. Aber keine Musik quillt unten aus den Salons hinaus in den Abend. Kein Kammerkonzert, kein gemeinsames Klavierspiel der Eltern klingt zu den Kinderzimmern hinauf: Nichts schwappt von draußen herein als immer neue Schwälle von Stille. Es hat auch keinen Sinn, wenn Hans jetzt heult. Wenn er heult, schläft er erst recht nicht ein. Dann bekommt er Kopfweh und fühlt sich flau im Magen, und dann verzweifelt er gänzlich, Hans versucht daran zu denken, dass er morgen mit Justus Delbrück Tennis spielt. Just ist sein bester Freund. Sie besuchen beide das Grunewald-Gymnasium. Sie werden Tennis spielen, und nach dem Spiel werden sie zu den Delbrücks in die Kunz-Buntschuh-Straße gehen. Erst am Abend muss Hans wieder zu Hause sein, zum Abendessen, zum Schlafengehen, Hans wünschte, er könnte schlafen. Aber der Lärm der fehlenden Musik ist zu laut. Die Mutter könnte doch wenigstens ein bisschen Klavier spielen?
Elisabeth von Dohnányi ist Pianistin. Sie könnte sich an den Flügel setzen, ein wenig improvisieren. Aber wahrscheinlich würde das alles nur noch verschlimmern. Es würde das Unhörbare noch lauter machen: das Fehlen des väterlichen Spiels, Ernst von Dohnányi ist ausgezogen. Er ist fort. Alles andere ist noch da: die Villa, die Hunde, das Personal, das französische Fräulein, der riesige Garten. Was haben Hans, Grete und die Mama falsch gemacht?
Der Vater ist ein bedeutender Mann. Er ist Professor an der Königlich-Preußischen Hochschule für Musik, er komponiert, er hat in Wien, London, Paris, New York Konzerte gegeben. Hans, Grete und die Mama haben immer sehr darauf geachtet, den Vater nicht bei der Arbeit zu stören. Sie haben immer Rücksicht genommen. Aber vielleicht war es nicht genug Rücksicht. Der Vater ist jedenfalls fort. Es kommen auch keine Gäste mehr. Früher wurden bei Tisch oft drei oder vier Sprachen durcheinander gesprochen, und dann gingen die Kinder zu Bett und lauschten der Musik, die durch die Nacht zu ihnen hinaufwallte. Nun sitzen sie abends allein zusammen. Es ist fast, als wäre jemand gestorben.
Es ist, als hätten sie alle Angst. Aber wovor? Das Schlimmste ist doch bereits passiert. Sie sind allein und verlassen, gibt es etwas Schlimmeres? Hans versucht an die Menschen zu denken, die noch da sind. Er versucht an seinen besten Freund Justus zu denken: Aber Just hat seinen Vater noch.
Just, Emmi und Max sind zu dritt, in der Delbrück-Villa in der Kunz-Buntschuh-Straße. Sie sind eigentlich sogar zu siebt, auch wenn die ältesten Geschwister nicht mehr ständig im Haus leben. Und gleich nebenan wohnen Onkel und Tante Harnack, und bei ihnen gehen Justs Vettern und Basen ein und aus, Hans von Dohnányi in der Stille seines Bettes wünschte, ihn umgäben auch so viele Leute.
Er wünschte, er wäre Just Delbrücks Bruder oder wenigstens sein Vetter. Aber das ist ein dummer Wunsch. Er kann ja niemals in Erfüllung gehen. Nun weint Hans doch. Es ist wirklich schlimm mit ihm. Er weiß genau, er wird nun Kopfweh bekommen. Aber er kann nichts gegen die Tränen tun. Nun, wo er einmal angefangen hat zu weinen, darf er gar nicht mehr damit aufhören: Sobald das Schluchzen verstummt, flutet die Stille ins Zimmer zurück, mit erneuter Macht. Und dann ist sie erstickender, tödlicher denn je.
Die Stille ist immer da, immer. Wen sie einmal erfasst hat, den lässt sie nie wieder los. Aber tagsüber muss man sie nicht hören. Das helle Licht des Mittags übertönt ihren Hall, der Lärm der Aktivitäten, Hans von Dohnányi spielt mit den Delbrück-Kindern Schlagball. Sie spielen auf der Kunz-Buntschuh-Straße vor dem Delbrück-Haus. Sie spielen nicht um Punkte, dazu sind sie zu wenige. Eine richtige Schlagballmannschaft besteht aus zwölf Spielern, und sie sind heute wieder nur zu viert, es ist das dritte Kriegsjahr.
In den Gärten der großen Grunewaldvillen wachsen Kartoffeln und Kohl. Zwerghühner scharren zwischen den Frühbeeten. Hähne krähen den Singvögeln ins Frühlingskonzert hinein. Im Schuppen der Delbrücks haust eine Milchziege. Im Schuppen der Harnacks hausen Kaninchen. Im Zaun dazwischen ist eine Pforte, die von einem Grundstück zum anderen führt, so dass man jederzeit zwischen dem Delbrück-Haus und dem Harnack-Haus hin- und hergehen kann. Arvid kommt immer auf diesem Weg herüber, wenn er
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