Wer wir sind
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Freya ist sehr früh aufgestanden. Sie ist bei ihren Bienen. Es sind nicht mehr viele Drohnen in den Körben. Freya hat große Gruppen spätblühender Stauden und Büsche gesetzt, aber dennoch wird mit Beginn des Hochsommers die Nahrung für die Bienen knapp. Und dann steht die Drohnenschlacht an. Aber der Name ist übertrieben. In Wirklichkeit töten die Arbeiterinnen die Drohnen ja gar nicht. Sie hören nur auf, sie zu versorgen. Die meisten Drohnen sterben dann. Sie können sich nicht allein erhalten. Nur wer sich mit dem Sterben zu langsam tut, den schleppen die Arbeiterinnen aus dem Stock, um ihn umzubringen.
Freya kümmert sich heute aber gar nicht um die Bienen. Siehat Helmuths Briefe dabei. Sie hätte die Briefe längst an einem sicheren Ort verstecken sollen. Nun wird sie sie in den Bienenkörben verbergen. Es ist Freya vollkommen klar, was das Attentat bedeutet. Freya mag zum Optimismus neigen. Aber sie gibt sich keinen Illusionen hin. Es gibt Momente, die Einschnitte sind in den Lauf der Zeit, Schluchten, über die keine Brücken führen: Man kann nicht wieder zurückgehen auf die andere Seite und eine andere Abzweigung wählen. Man kann keinen Kreis laufen und so wieder zum Anfang zurückfinden. Helmuth wird nun nicht mehr entlassen werden. Man wird ihn mit dem Attentat in Verbindung bringen, vielleicht früher, vielleicht später. Aber es wird geschehen. Freya hat Sprecherlaubnis beantragt. Sie wird nach Ravensbrück fahren.
Tisa und Charlotte stehen am 21., am 22., am 23. Juli sehr früh auf. Sie stehen nun alle Tage früh auf. Sie ziehen sich an, schminken sich die Lippen, kämmen sich, frühstücken und beginnen den Tag. Sie sagen, was zu sagen ist: Sie verleugnen Claus Stauffenberg.
Unser Stauffenberg? Nein, natürlich war der Attentäter nicht unser Stauffenberg. Es gibt Hunderte von Stauffenbergs.
Und wer glaubt ihnen wohl? Tisa und Charlotte gehen jeden Tag mit den Kindern an den See. Sie nehmen Brotkrümel mit und füttern die Fische. Sie bringen dem kleinen Fritzi das Schwimmen bei. Sie reiten das wilde Pferdchen zu. Sie beteiligen sich an der Notgetreidesammlung: Sie sammeln die Ähren ein, die bei der Ernte auf den Feldern liegen geblieben sind. Nachmittags trinken sie Sherry. Abends zum Schlafen nehmen sie Brom. Von Fritzi kommt keine Nachricht. Die Zeit steht still. Die Zeit ist zu einer eisigen Ebene gefroren, auf der sie sich unsicheren Schritts bewegen, insektenkleine Wesen,die versuchen, von der Vergangenheit in die Zukunft zu gelangen. Die gefrorene Zeit ist hart wie Stein. Jeder Tag ist ein Steinblock, eine Mauer, eine Wand. Man muss durch jeden Tag hindurchkommen, aber mit welchem Hammer, welchem Meißel? Dann fallen Charlotte die Briefe ein. Sie muss natürlich Fritzis Briefe verstecken. Sie kann diese Briefe nicht behalten. Sie sitzt die ganze Nacht auf dem Bett und liest. Die Jahre rollen an ihr vorüber. Die bunten Jahre, die vollen Jahre, wie hat sie denken können, er wäre selten da gewesen? Er war immer da. Ihr fällt kein Bild ein, das ihn nicht enthält. Als der Morgen dämmert, ist sie fertig. Die unverfänglichsten Briefe und die, die sie am leichtesten entbehren kann, legt sie für die Gestapo bereit. Die anderen schnürt sie zusammen. Dann verlässt sie leise das Schloss.
Sie geht am See entlang, in den Wald hinein. Es ist noch ganz still. Sie ist allein. Nichts ist zu hören, nur Vogelgezwitscher, laut, lärmend. Eine Ahnung überfällt sie: So wird ihr Leben von nun an sein. Vor ihr liegt die Barnersche Familiengruft. Charlotte steigt in die Gruft hinab. Sie hat die Briefe gut verpackt. Sie wird sie in der Gruft verbergen. Niemals kommt irgendjemand hierher. Niemals steigt jemand hinab, zu den langsam zerfallenden Särgen.
Das Ausland betrachtet das Scheitern des Attentats als einen Glücksfall. Der beim Geheimdienst und beim Außenministerium akkreditierte Deutschlandexperte John W. Wheeler-Bennett legt Churchill und Eden ein Memorandum vor, in dem er erklärt, dass das Scheitern der Verschwörung den Alliierten eine Menge Verlegenheiten erspart hat, in die man geraten wäre, wenn die Generäle die Macht übernommen und dann womöglich ein übereiltes Friedensgesuch gestellt hätten. Auch kann nun nach der Niederwerfung Deutschlands niemandmehr als angeblich guter Deutscher posieren. Winston Churchill erklärt im britischen Unterhaus, es handle sich bei der ganzen Sache lediglich um Ausrottungskämpfe unter den Würdenträgern des
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