Wer wir sind
Barbara hat ihm ein Glas Milch heiß gemacht. Die Milch steht vor ihm, auf dem Tisch. Barbara spült den Topf aus. Sie trocknet den Topf ab. Sie räumt den Topf weg. Sie sagt: »Trink doch die Milch, Hannes.«
Er stöhnt. Er legt das Gesicht in die Hände. Barbara überlegt, ob sie nicht noch den Küchenfußboden wischen könnte. Die Küche ist sauber. Aber nun einfach einen Lappen zu nehmen. Auf die Knie zu gehen, mit Seife und scharfen glatten Strichen über die Fliesen zu fahren. Barbara sagt: »Hannes. Willst du Honig zur Milch? Hannes, du hattest doch auch damit gerechnet. Du hattest einkalkuliert, dass es fehlschlägt. Und du bist trotzdem gegangen.«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Und man hofft doch. Man hofft, dass es gelingt. Man vertraut auf Gott. Wenn Gott gewollt hätte, wäre es gelungen.«
»Du meinst, Gott wollte nicht, dass Hitler stirbt?«, sagt Barbara.
Hannes stöhnt wieder.
»Wir werden sterben«, sagt er. »Wir werden alle sterben.«
»Hannes«, sagt Barbara. »Bitte. Das klingt so furchtbar hochtrabend. Noch ist doch nicht alles verloren.«
Er nimmt die Hände vom Gesicht.
»Und die Verhöre«, sagt er. »Werde ich den Verhören standhalten? Werde ich die Qualen ertragen können?«
Barbara hat das Gefühl, dass der Boden unter ihr wegsackt. Es ist ein scharfes, körperliches Gefühl, als wäre sie im Glauben,den Fuß einer Treppe erreicht zu haben, unvermittelt ins Leere getreten.
»Du musst mir Anweisungen erteilen«, sagt sie. »Du hast mir noch gar keine Anweisungen erteilt. Was soll ich denn tun? Was soll ich überhaupt tun, wenn du wirklich verhaftet wirst?«
»Ich werde mit Sicherheit verhaftet«, sagt er. »Werner und ich haben zusammengewohnt. Es wundert mich, dass ich noch frei bin. Ich sehe nur noch eine Möglichkeit. Ich werde morgen zu Six gehen und mich nach Werner erkundigen. Ich werde mich stellen.«
»Ich bin auf diese Sache überhaupt nicht vorbereitet«, sagt Barbara. »Wir sind nicht vorbereitet. Wir haben niemals darüber geredet, wie wir uns das Ende vorstellen. Ich weiß nicht einmal, was du dir als Grabspruch wünschst. Vielleicht etwas mit Liebe. Die Liebe währet ewiglich. «
Er birgt wieder das Gesicht in den Händen.
»Bitte, Hannes«, sagt Barbara. »Du darfst jetzt nicht verzweifeln. Denk daran, wir müssen schließlich alle einmal sterben. Der eine früher, der andere später.«
Er hebt den Kopf wieder. Er sieht an ihr vorbei.
»Ja«, sagt er. »Aber wären die Jahre, die ich noch gelebt hätte, nichts gewesen als leer gedroschenes Stroh? Ja, man muss sterben. Aber hofft man nicht bis zum letzten Atemzug?«
»Aber was sollen wir denn tun?«
Er antwortet nicht. Er hat wieder das Gesicht verborgen.
Die Angst ist unerträglich. Margarethe Oven liegt in ihrem Bett, in der verdunkelten Tresckowschen Wohnung. Sie ist allein. Sie liegt auf dem Rücken. Sie starrt in die Finsternis. Sie wartet darauf, dass man sie abholt.
Der Führer Adolf Hitler ist tot!
Es muss herauskommen. Es wird herauskommen. Die Angst ist so gewaltig, dass Margarethe sich nicht bewegen, noch weniger Licht machen kann. Es ist ihr, als müsste ihre kleinste Bewegung, ihre winzigste Regung die Aufmerksamkeit der Gestapo auf sie ziehen, die Aufmerksamkeit des Schicksals, den sicheren Tod. Das Telefon schrillt. Margarethe schreit auf, presst das Gesicht ins Kissen.
Das Telefon! Es ist nur das Telefon
Margarethe taumelt aus dem Bett, in den Flur. Sie greift nach dem Hörer.
»Fräulein von Oven?«
Es ist Oberstleutnant Berndt von Kleist.
»Fräulein von Oven, Generalmajor Henning von Tresckow ist tot. Er ist heute an der Front gefallen. Er ist gestorben wie ein Held. Jemand muss es seiner Frau sagen. Würden Sie das übernehmen? Würden Sie nach Wartenberg fahren und seiner Frau die Nachricht überbringen?«
Margarethe von Oven steht in der Diele.
Henning ist tot. Stauffenberg ist tot. Margarethe ist gerettet.
Die Angst ist von ihr genommen. Alles ist Erleichterung: Margarethe ist gerettet, und Henning ist gefallen. Sie können ihn nicht erreichen. Diesen einen können sie nicht erreichen. Gott selbst hat ihn fortgenommen. Dann setzt der Schmerz ein. Es ist ein scharfer, langsam anwachsender Schmerz, wie vom Stich eines giftigen Insekts.
Erika von Tresckow steht mit Margarethe von Oven im Gartensaal. Der Saal ist mitten am Nachmittag düster, von Blitzen erleuchtet: Über Wartenberg geht ein schweres Gewitter nieder. Die Frauen halten einander bei den
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