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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Händen.
    »Mama?«
    Uta von Tresckow steht in der Tür. Ihre Kleider kleben nassan ihren mageren dreizehn Jahre alten Armen und Beinen: Das Gewitter hat sie im Wald überrascht.
    »Mama? Was ist denn passiert?«
    Eta wendet sich ihrer Tochter zu. Sie sagt: »Mein Kind. Wir müssen jetzt sehr tapfer sein.«
    Uta starrt ihre Mutter an. Sie hat begriffen. Sie hat sofort alles begriffen.
    »Dein Vater ist an der Front gefallen. Ich weiß, es ist ein furchtbarer Schmerz. Aber glaub mir, es gibt Furchtbareres. Wir können stolz sein auf deinen Vater, denk immer daran. Wir können sehr sehr stolz auf ihn sein.«
    Blitze erhellen den Gartensaal von Wartenberg. Donnerschläge rumpeln wie Artilleriefeuer.
    Dies muss das schwerste Gewitter sein, das Helmuth Moltke jemals erlebt hat. Der Tag ist zur Nacht geworden. Blitze laufen an dem elektrisch geladenen Draht entlang, der fünf Meter von seinem Fenster entfernt auf der Lagermauer gespannt ist, und verwandeln ihn in einen Lichtbogen. Regen und Hagel fallen senkrecht. Es ist der 22. Juli, und Helmuth Moltke ist eisern entschlossen, sich nicht aufwühlen zu lassen.
    Von dem Attentat hat er noch am 20. erfahren, beim Abendspaziergang im Hof. Die Nachricht klang aus dem Radio des Lagerkommandanten herüber. Helmuth hat sie entschlossen ignoriert. Er hat keine rechthaberische Genugtuung empfunden angesichts der Tatsache, dass die Sache schiefgegangen ist, genau wie er es vorausgesagt hat, auch keine Trauer und kein Entsetzen. Er hat sich an sein Programm gehalten: Er hat im Buch Hiob gelesen, in Rankes Werk über die Päpste, dann etwas über Pflanzenernährung. Er hat sich über Casparchens Karte gefreut, über das neue Bestellungsplanbuch. In der Nacht vom 20. auf den 21. hat er tief und traumlos geschlafen.
    Aber seit gestern ist es nicht mehr so einfach. Es fällt Helmuth schwer, sich auf seine Lektüre zu konzentrieren. Sein Geist schweift ab. Ununterbrochen werden Neuzugänge gemeldet: Julius Leber ist gebracht worden. Dahrendorf. Haubach. Leuschner. Hassell. Die Gefangenen auf der Nordseite, die die Ankunft der Neuen beobachten können, morsen weiter, was sie sehen. Die Bibelforscherinnen flüstern Namen durch die Türen: Popitz. Ewald Heinrich von Kleist-Schmenzin. Ulrich Schwerin von Schwanenfeld. Peter Graf Yorck von Wartenburg.
    Peter. Also auch Peter. Sie haben alle mitgemacht. Helmuth Moltke versucht, die Bitterkeit abzuschütteln. Aber es gelingt nicht. Ulrich von Hassell haben sie letzte Nacht schwer misshandelt. Warum gerade Hassell? Puppi Sarre will ihm und Peter Yorck heute auf ihrer Kochplatte einen Risotto kochen. Helmuth geht in der Zelle auf und ab. Er ist inzwischen recht gut darin, sich nicht von der ständigen Hoffnung auf Veränderung zerfressen zu lassen. Aber die Unruhe macht es schwer, diszipliniert zu bleiben. Immerhin hatte man ihm angekündigt, er würde in den nächsten Tagen freikommen. Das wird sich nun sicher verzögern. Man wird mit anderen Dingen beschäftigt sein. Helmuth muss neu darum ringen, sich bis in die Tiefe seines Wesens mit der Dauerhaftigkeit seines Zustands abzufinden.
    Andererseits, beweist nicht gerade die Tatsache, dass er seit Januar in Haft sitzt, wie wunderbar er geführt wird?
    Man kann ihn nun ja nicht einmal mehr versehentlich mit der Attentatsplanung in Verbindung bringen. Er muss das Freya wissen lassen. Wahrscheinlich ist ihr der Gedanke schon selbst gekommen. Dennoch, er muss Freya wissen lassen, wie ruhig er ist, damit sie sich nicht beunruhigt. Alles hängt davon ab, dass sie stark und heiter bleibt. Vor Jahren einmal hat erdie Widmung aus Will Durandts ›Story of Philosophy‹ für sie abgeschrieben, das fällt ihm jetzt ein.
    To my Wife
    Grow strong, my comrade … that you may stand
    Unshaken when I fall; that I may know
    The shattered fragment of my song will come
    At last to finer melody in you;
    That I may tell my heart that you begin
    Where passing I leave off; and fathom more –
    Der Regen hat aufgehört. Der Donner grollt nur noch leicht in der Ferne. Das Gewitter ist vorüber. Die Luft, die durchs Fenster in Helmuths Zelle quillt, duftet frisch und süß. Vielleicht wird man ihn heute doch noch einmal hinauslassen. Man treibt die Alteingesessenen jetzt ja immer alle zusammen in den Hof, so dass man sich weder mit jemandem vernünftig unterhalten noch gar ein wenig Sport treiben kann. Aber die Neuen müssen eben einzeln gehen, und das braucht seine Zeit. Heute Morgen hat Helmuth auch Peter im Hof gesehen.

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