Wer wir sind
auf jeden Platz der hingeschoben, der dorthin passte und den man dort notwendig hatte.«
Aber wie konnte das gelingen? Diese Männer müssen klug gewesen sein, sehr klug, geschickt und mutig. Sie haben ihr Leben riskiert. Warum? Viele riskieren ihr Leben, um das Vaterland zu retten. Warum haben diese ihr Leben riskiert, um ihr Vaterland zu verraten? Und es waren gar nicht so wenige.
»Auf der zivilen Seite der Regierungspräsident Graf Schulenburg, der Sohn unseres alten, anständigen Generals und SS-Obergruppenführers Graf Schulenburg. Dessen Sohn schändet das Andenken seines Vaters. Herr Schulenburg bemühte sich in den ganzen vergangenen Monaten, ins Innenministerium hineinzukommen. Ich hatte gegen ihn eine Aversion und sagte: Nein, den will ich nicht, den nehme ich nicht herein. Er bemühte sich eifrigst. Er sollte ja auch Staatssekretär oder Innenminister werden. Da kann ich es verstehen, wenn er vorher hineinwollte.«
Hämisches Lachen. Aber hört denn keiner zu? Hildebrandt sieht sich noch einmal um. Es regnet Namen über große Namen.
»Es wird wohl in der nächsten Woche ein erster großer Prozess vor dem Volksgerichtshof erfolgen. Es werden dann eine Anzahl kleinerer Prozesse folgen. Ich bin absolut fest entschlossen, jedem Würzelchen nachzugehen, das in dieses oder jenes Ministerium hineinführt. Ich bin überzeugt, Verästelungen finden wir in der Wirtschaft, im Auswärtigen Amt, die Spuren findet man überall. Die Gefahr der Gesamtverschwörung war riesengroß.«
Keiner reagiert alarmiert, keiner ringt die Hände. Sind sie alle taub?
»Wenn der Herrgott hier die Hand nicht dazwischengehalten hätte, wäre das der Untergang unseres großdeutschen Reiches, der Untergang unseres Volkes gewesen. Besetzung der Konzentrationslager, Entwaffnung der Wachmannschaften. Besetzung der Reichsführung-SS, des Reichssicherheitshauptamtes, der Gauleitung, Aufhebung jeder Dienststelle, Verhaftung jedes Kreisleiters, jedes Gauleiters.«
Hildebrandt ist übel. Wie hat er die Macht seiner Dienstherren überschätzt. Wie hat er auf das falsche Pferd gesetzt.
»Wir mögen alle eines daraus lernen: dass es für uns nur eine unerhörte Einigkeit gibt, dass wir alle uns nur noch enger zusammenschließen können.«
Aber der Krieg ist verloren. Was, wenn Hildebrandt seine Haut hätte retten können, in der Verschwörung? Hätte man doch Hildebrandt gebeten mitzumachen, und hätten die Verschwörer gewonnen! Dann wäre Hildebrandt vielleicht herausgekommen aus den Schrecken, die sich vor ihm abzeichnen.
»Ich habe den Befehl gegeben, dass die Leichen der Hingerichteten verbrannt werden und die Asche in die Felder gestreut wird. Der Reichsmarschall meinte dann sehr richtig: Über die Äcker ist zu anständig, streuen Sie die Asche über die Rieselfelder.«Die Berliner Rieselfelder sind Ende des neunzehnten Jahrhunderts zur Reinigung der Abwässer Berlins angelegt worden. Sie sollten den Schmutz ausfiltern, damit er nicht mit dem Wasser in die tiefsten Schichten der Erde dringt. Mit der zunehmenden Nutzung von Kläranlagen ist diese Art der Abwasserreinigung im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts aber obsolet geworden. Die Flächen werden nach und nach renaturiert. Es ist eine Landschaft im Umbruch, weder Wald noch Feld. Wildkräuter siedeln sich in ihr an: Spießmelde, Ampfer-Knöterich, Nickender Zweizahn, Roter Gänsefuß. Goldammer und Neuntöter, Knoblauchkröten und Zauneidechsen finden hier eine Zuflucht. In den Flachwasserteichen wiederbewässerter Felder werden Watvögel heimisch, Wasservögel, Gründelenten. Rallen womöglich.
Margarethe von Oven liest es in der Zeitung.
Generalmajor Henning von Tresckow, Chef Gen. Stab 2. Armee, freiwillig ins feindliche Feuer gelaufen
Und nun ist er aus den Reihen der Wehrmacht ausgestoßen, auf Vorschlag des Ehrenhofes des Heeres. Margarethe überlegt, was sie tun soll. Sie überlegt, was das für sie bedeuten könnte. Während sie noch überlegt, kommt das Telegramm. Eta von Tresckow bittet Margarethe, Mark von Tresckow die Wahrheit zu sagen: Tante Övchen soll dem Sohn erklären, wer sein Vater gewesen ist.
»Mark von Tresckow wird gleich da sein«, sagt der Oberleutnant in Finkenbuch bei Berlin. »Lassen Sie sich Zeit, Fräulein von Oven. Um ehrlich zu sein, ich bin erleichtert. Ich bin froh, dass ich es ihm nicht selbst sagen muss.«
Und was kann Tante Övchen zu Hennings Sohn sagen? Er strahlt sie mit blauen Augen an.
»Tante Övchen, das kann nicht sein. Vater ist
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