Wer wir sind
doch kein Verräter und Eidbrecher.«
»Nein. Sicher nicht. Aber du weißt ja, er war sehr klug. Er hat natürlich über die Zukunft nachgedacht.«
So beginnen sie.
»Er hat vielleicht gefürchtet, Deutschland könnte den Krieg verlieren.«
Es braucht mehr als einen Besuch, mehr als einen Nachmittag, bis Mark von Tresckow glaubt, dass sein Vater ein Feind des Nationalsozialismus war. Es braucht Zeit, bis er die Gründe des Vaters versteht: Den Vater zu verstehen heißt ja, sich selbst vom Nationalsozialismus abzuwenden.
»Deswegen hat dein Vater niemals zu dir über all das gesprochen«, sagt Margarethe. »Er wollte dich froh und frei. Er wollte, dass du glücklich bist. Er wollte nicht, dass du einsam sein solltest, isoliert von den anderen deines Alters. Aber jetzt bist du kein Kind mehr. Jetzt bist du erwachsen.«
Major i. G. Joachim Kuhn, Ia der 28. Jäger-Division, geflüchtet, ausgestoßen aus der Wehrmacht
Das lesen die Eltern. Sofort hebt die Klage der Mutter neuerlich an: Die Stauffenbergs, die Stauffenbergs, es hat alles mit den Stauffenbergs begonnen. Hätte der Sohn sich doch nie in eine Stauffenberg verliebt, hätte er doch nie diese Leute kennengelernt! Es ist ihm daraus nur Unglück geworden. Kuhns Mutter hat die Ehe ihres Sohns mit der Stauffenbergschen Katholikin zu verhindern gewusst. Der Sohn hat um ihr Einverständnis gebettelt. Er hat gebarmt und gebeten, er hat getrotzt und sich gewunden. Aber schließlich ist er eingeknickt. Er hat auf seine Liebe zu Claus Stauffenbergs Cousine Marie Gabriele verzichtet, um der frommen Mutter nicht zuwiderzuhandeln.
Danach war er nie mehr richtig er selbst. Er war nie mehr froh. Er hat sich über den Willen der Mutter nicht hinwegsetzen können, aber Marie Gabriele hat er auch nie vergessen: Er ist eben keiner von den Starken.
Genau das hat seinen Vorgesetzten berührt, Generalleutnant Gustav Heisterman von Ziehlberg. Ziehlberg hat deswegen gegen den Befehl gehandelt. Er hätte Kuhn sofort verhaften lassen sollen. Er hat ihm aber Gelegenheit gegeben, sich zu sammeln, und Kuhn hat die Zeit genützt, um zu den Russen überzulaufen, die ihn sofort gefangen genommen haben. Dass er sich auf seine Zugehörigkeit zu den Verschwörern des 20. Juli beruft, ist ein großer Fehler: Die Verschwörer haben schließlich einen Separatfrieden mit den Westalliierten angestrebt, sie waren und sind somit Feinde der Sowjetunion.
Ziehlberg wird am 2. Februar 1945 in der Berlin-Spandauer Murellenschlucht erschossen werden. Kuhn werden die Sowjets bis Januar 1956 in verschiedenen Gefängnissen festhalten, sie werden ihn verhören und immer wieder verhören, er wird in dieser Zeit den Verstand verlieren und ihn niemals mehr vollständig wiedergewinnen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wird die Staatsanwaltschaft der Bundesrepublik Deutschland gegen ihn wegen Fahnenflucht und Verdachts landesverräterischer Beziehungen ermitteln. Auch wird man ihm vorwerfen, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Grundgesetzes bekämpft zu haben. Es versteht sich unter diesen Umständen von selbst, dass man ihn nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkennt. Das Todesurteil gegen ihn kann nicht aufgehoben werden, weil es unauffindbar bleibt. Sein Antrag auf Anspruch von Dienstbezügen wird ebenfalls zurückgewiesen, da Major i. G. Joachim Kuhn am 4. August 1944vom damaligen deutschen Staatsoberhaupt aus der deutschen Wehrmacht ausgestoßen worden ist.
Am 6. März 1994 wird Joachim Kuhn, der seit seiner Haft im Alexandrowski-Zentralgefängnis bei Irkutsk davon überzeugt ist, in Wahrheit ein Graf von der Pfalz-Zweibrücken zu sein oder auch Wilhelm von Preußen, einsam an den Folgen eines Schlaganfalls in einem Pflegeheim sterben. Erst am 23. Dezember 1998 wird er vom Militärgericht des Militärbezirks Moskau mangels des Tatbestandes eines Verbrechens in seinen Handlungen rehabilitiert werden.
Charlotte sitzt im Speisezimmer auf Trebbow. Es ist inzwischen dunkel, wohl gegen elf Uhr nachts. Um vier Uhr standen plötzlich drei Männer am Seeufer, die mit ihr zu sprechen wünschten. Immerhin hat man ihr gestattet sich anzuziehen. Sie hat den Moment genutzt, um etwas Brom zu nehmen. Also ist sie nun ruhig. Sie hat den Polizisten den Stapel Briefe mitgegeben, den sie für diesen Zweck präpariert hat. Die Polizisten sind aber mit den Briefen nicht glücklich.
Sie sind mit Charlotte nicht glücklich. Charlotte gibt bereitwillig zu,
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