Wer wir sind
beglückend. Die leuchtende Frühlingsschönheit des Gebirges erinnert sie an Österreich, an die Tage und Wochen am Grundlsee mit Helmuth. Sie denkt nicht an ihn. Es ist eher so, als dächte er an sie. Als dächte er an die Jahre, die sie miteinander gesammelt haben, unverlierbar. Freya radelt. Gegen fünf Uhr kommt sie nach Friedland.
Sie ist nun über sechzig Kilometer gefahren. Die frische Fröhlichkeit des morgendlichen Aufbruchs ist verflogen. Freya wird allmählich müde. Aber zurück kann sie jetzt nicht mehr, und bei Fremden übernachten will sie auch nicht. Hier ist ihr ja schon alles vertraut. Dies ist schon Heimat: diese Weite und Nähe, die herbe Zartheit dieser Landschaft im Herzen Schlesiens. Also fährt sie weiter. Es ist im Grunde eine rein körperliche Sache: Man setzt einen Fuß vor den anderen, man tritt in die Pedale, man muss vorwärts, immer immer vorwärts. Und von der Höhe des Schlesiertals geht es ja nur noch bergab. Sie tritt in die Pedale. Sie radelt in den Schatten der Eule hinein, das Wüstewaltersdorfer Tal entlang. Bei Kynau biegt sie in die Weistritz-Talsperrenstraße ab.
Wie liebevoll mutet sie hier alles an. Wie liebevoll empfängtsie das Land, mit ausgebreiteten Armen und klopfendem Herzen. Es ist fast, als führe Helmuth neben ihr her, ein jugendlicher Helmuth, noch unbelastet von Schrecken und Schicksalhaftem. Helmuth wollte sie hier. Sie hätte bei ihm in Berlin leben können, aber er wollte sie im Herzen seines Reichs, auf der Insel, die Freya von Moltke geschaffen hatte, für ihn, die Kinder und alle anderen, die ihr anvertraut waren und anvertraut sind. In tief beglückter Melancholie fährt Freya von Moltke in den dämmernden Abend hinein.
Sie lässt die Berge hinter sich, sie fährt gegen Ludwigsdorf. Dann taucht der Kapellenberg auf. Da liegt der Mühlberg, und dort ist Wierischau. Dort ist Kreisau, und das Berghaus neben der großen Akazie. Es brennt Licht in den Fenstern. Freya radelt die letzten von über hundert Kilometern. Sie steigt ab. Sie lehnt das Rad an die Wand des Berghauses, sie schließt ihre Tür auf.
»Freya!«
Marion eilt ihr durch den Flur entgegen. Marion und Muto sind da, schon seit einigen Tagen. Freya ist wieder zu Hause.
Marion kann Peters Brief auswendig. Nun muss sie ihn nicht mehr täglich lesen. Sie hat ihn in ein Leinensäckchen eingenäht, das sie unter den Kleidern um den Hals trägt.
Mein inniggeliebtes Herzenskind!
Wir stehen wohl am Ende unseres schönen und reichen gemeinsamen Lebens. Dass Gott es so gefügt hat, gehört zu der Unerforschlichkeit seiner Ratschlüsse, die ich demutsvoll annehme. Ich glaube mich durch das Gefühl der alles niederbeugenden Schuld getrieben und reinen Herzens. Es war so schön, dieses Leben mit Dir, immer höher hinauf bei allem Leid, was wir darin erlebten. Wenn ich auch hier fortgehe, meine Tapfere, ich lasse Dich nicht allein, auf Schritt und Trittbegleitet Dich meine Liebe. Such für uns zwei eine Stelle aus, wo wir ganz nah beieinander Platz haben. Und die Tafel für Hannusch, die machst Du für uns drei, für ihn, für Heinrich und für Peter. Unsere Zweisamkeit, sie dauert fort, mein Herzlieb, auch wenn meine Hände Dich nicht mehr streicheln können. Mein Tod, er wird hoffentlich angenommen als Sühne aller meiner Sünden und als Sühneopfer für das, was wir alle gemeinschaftlich tragen. Die Gottesferne unserer Zeit möge auch zu einem Quentchen durch ihn verringert werden. Wenn der Anschein auch sehr ruhmlos, ja schmachvoll ist, ich gehe aufrecht und ungebeugt diesen letzten Gang und ich hoffe nur, dass Du darin nicht Hochmut und Verblendung siehst, sondern ein bis zum Tode getreu. »Des Lebens Fackel wollten wir entzünden, ein Flammenmeer umgibt uns, welch ein Feuer!« Und nun sage ich Dir zum letzten Mal Lebwohl. Sei tapfer und stark, gib Liebe und vertraue Dich der Liebe. Nimm den unaussprechlich großen Dank Deines Mannes entgegen, der Dir die Schönheit seines Lebens dankt.
In der zärtlichen Liebe, in der ich hier mit Dir lebe, werde ich weiter leben. Ich streichle und küsse Dir Deine lieben Hände
Helmuth ist nicht fort, von Kreisau. Er wird nie fort sein. Er ist immer hier, alles hier ist von Helmuth gesättigt. Es ist eine beinahe körperliche Erfahrung, wie eine Berührung: Kreisau ist durchtränkt von Helmuth, von seinem Leben, wie ein getragenes Hemd. Jeder Stein, jeder Fußbreit Boden, jeder Baum kennt ihn, birgt eine Erinnerung an ihn. Sie kann über die Felder gehen, einen
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