Wer wir sind
figuriert. Ich sah den großen Garten, darin Mariechen als Frau eines zu engagierenden Gärtners. Ich sah die reiche Obstblüte draußen und das Vieh auf gut beregneter Weide. Es war ein Bild der fruchtbaren Liebestätigkeit. Mein liebstes Herzelein, an allem will ich weiter teilnehmen und ich sehe Dich weiter von Goldchen und den Schwestern liebevoll umhegt
Sie berührt den Brief.
Beunruhige Dich nicht, Liebster.
Marion umrundet das Schloss. Sie tritt durch die Tür des Gutshauses. Die vertrauten Möbel sind alle fort: alles, was Marion von der Hortensienstraße hierhergeschleppt hat, um es zu retten. Stattdessen reiht sich Bett an Bett. Die Stille eines Totenhauses liegt darüber. Muto sagt: »Ein Lazarett.«
Sie treten wieder hinaus ins Freie. Die Sonne scheint warm. Sie umrunden die Stallungen. Auf dem Misthaufen Fetzen eines Teppichs, der halb verbrannte Schirm der Leselampe im Wohnzimmer. Und ließe sich Kauern zurückerobern, neu herrichten? Könnten sie dies wieder in Besitz nehmen, hier noch einmal heimisch werden? Hannuschs schöne weiße Scheunenwand ist schwarz von Fliegen.
Sie gehen am Haus von August Karbstein vorbei, bis 1933 Kauerns Gemeindevorsteher. Die Haustür steht offen. In Karbsteins Stube wird eine Klaviertaste angeschlagen. Im Flur steht ein russischer Soldat, ein Tatar, mit flachen Wangenknochen, schmalen Augen. Musik quillt auf die Staße, eine Stimme erhebt sich zum Gesang. Dann tritt Bauer Karbstein auf die Straße hinaus.
»Frau Gräfin!«, sagt er. »Ach, Frau Gräfin. Dass Sie zurückgekommen sind.«
So sind die Menschen. So sind die letzten Sesshaften: zu Tränen gerührt, wenn die Umherziehenden sie besuchen.
Emmi muss über den Fluss gelangen. Bis hierher hat sie sich durchgeschlagen, mit Zügen, mit dem Rad, über weite Strecken zu Fuß. Bei einem Bäcker durfte sie sich Grütze kochen, ein Bauer hat ihr Stachelbeeren geschenkt. Sie hat im Heu geschlafen, im Stall, auf dem unbezogenen Bett freundlicher Leute. Nun ist sie in Neu Kaliß an der Elde. Wer hat ihr geraten, hierherzufahren, der junge Heuss vielleicht?
Geh zu Viktor Bausch. Der hat eine Papierfabrik. Die Russen haben ihn zum Bürgermeister gemacht. Bausch wird dir helfen können.
Aber das kann er nicht. Die Russen lassen niemanden über den Fluss. Der russische Kommandant ist freundlich, dabei ganz unbeeindruckt von Emmis Toten.
»Aber ich muss über den Fluss. Ich muss zu meinen Kindern.«
Und liegt Neu Kaliß womöglich schon in der Schattenwelt? Ist Emmi den Toten in den Hades gefolgt? Liegt vor ihr der Fluss Styx, den niemand mehr in Richtung der Lebenden überschreitet?
Erika Bauschs Stiefvater ist in Berlin von den Russen verhaftetworden, zusammen mit Emmis Bruder Justus. Das hat Erika von Emmi erfahren. Erika will Emmi gern helfen. Der Park der Bauschs grenzt direkt an die Elde. Am Nachmittag versteckt sich Emmi im Keller der Papierfabrik, zwischen den dort verborgenen Bildern von Karl Schmidt-Rottluff, dessen Schülerin Erika Bausch einst gewesen ist. In der Nacht kriecht Emmi durchs Gebüsch hinunter zum Flussufer. Ein Neffe der Bauschs lenkt den Posten ab. Emmi kann ihre Stimmen hören. Sie steigt ins Wasser. Sie schwimmt. Das Wasser plätschert. Es ist flach, dann tief. Wird man auf sie schießen? In der Mitte des Flusses schließt sie die Augen. Dann ist sie hinübergelangt. Ihre Füße finden Grund. Sie kriecht ans Ufer.
Auf Oxfords Straßen und Plätzen und in allen Wohnstuben ist der Sieg gefeiert worden, in Kirchen und Kathedralen läuteten die Glocken. Überall fanden Dankgottesdienste statt. Die Menschen haben einander umarmt, sie haben vor Glück geweint. Aber Sabine Leibholz wird ihre toten Brüder nie wiedersehen. Nun hält Bischof Bell einen Gedenkgottesdienst in der Londoner Trinitatiskirche für seinen guten Freund Dietrich Bonhoeffer, für Dietrichs Bruder Klaus, Rüdiger Schleicher und Hans von Dohnanyi.
Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Hütet euch vor den Menschen; denn sie werden euch überantworten vor ihre Rathäuser und werden euch geißeln in ihren Schulen –
In Deutschland sitzen Paula und Karl Bonhoeffer vor dem Radio und lauschen der Übertragung des englischen Gedenkgottesdienstes für ihre Kinder. Hans von Dohnanyis Schicksal ist der Familie nach wie vor nicht bekannt.Marion kann nicht aufhören zu fahren. Sie muss fahren, sie muss laufen, sie muss in Bewegung bleiben, Peter
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