Wer wir sind
stillsitzen. Sie muss gehen.
Und Kreisau blüht und leuchtet, wie jedes Jahr.
Unsere schlesischen Sommer,
jajaja ja!
Unsere herrlichen Sommer!
Und da ist auch wieder das Unkraut. Auf den Feldern, im Garten, in den Blumenrabatten: das Unkraut, das Freya letztes Jahr, vorletztes Jahr, alle Jahre entfernt hat. Das schlechte Unkraut, das man jätet, wo man es eben jäten kann. Dahinter wächst das böse Kraut, gegen das sie all die Jahre Krieg geführthat: kriechender Hahnenfuß und Giersch, Kräuter, die nichts neben sich dulden, die alles überwuchern und vernichten. Das kommt immer wieder. Der Kampf dagegen ist nie endgültig gewonnen. Er ist aber auch nie endgültig verloren.
In der Dunkelheit der Nacht haben Marion und Muto Platz in einem Güterzug ergattert. Die Waggons sind halb voll mit Kartoffeln, randvoll mit Flüchtlingen. Sie stehen in einem Bahnhof. Sie wollen nach Berlin. Es ist aber keine Lok da. Auf einem Güterzug nebenan jammern und schreien Verwundete, von wo nach wo unterwegs? Keiner kümmert sich um sie. Überall hohe Feuer, das Schlachten von Vieh, tote Tiere an Bratspießen. Betrunkene Russen.
Im Tiergarten am Lehrter Bahnhof sind sieben Leichen gefunden worden, unter ihnen Albrecht Haushofer, mit dem Klaus Bonhoeffer zusammen inhaftiert war. Klaus war aber nicht dabei. Klaus und Rüdiger sollen von Kommissar Stawitzki abgeholt und nach Mecklenburg verfrachtet worden sein: Dieses Gerücht ist Emmis Bruder Justus zu Ohren gekommen.
Am 25. Mai wird Justus Delbrück von den Russen verhaftet.
Am 30. Mai trifft Eberhard Bethge den einzigen Überlebenden der sechzehn Häftlinge, die in der Nacht des 23. April von einem Sonderkommando des Reichssicherheitshauptamts aus dem Gefängnis geholt und auf dem Trümmergelände des Universum-Landesausstellungsparks in der Nähe der Invalidenstraße durch Genickschuss ermordet worden sind. Zu ihnen gehörten auch Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher. Emmi hat lange an der Mordstelle gestanden. Sie hat Blumen zwischen die Trümmer gelegt.
Und nun hält sie nichts mehr. Ihr Mann ist tot, ihr Haus istzerstört, ihr Bruder ist von den Russen verschleppt. Emmi will zu ihren Kindern.
Marion und Muto haben Berlin wieder verlassen. Sie sind wieder über die Neiße gegangen, dem Flüchtlingsstrom entgegen, zurück nach Schlesien, in das aus dem Osten immer mehr Polen strömen. Die Unbehausten wogen von Westen nach Osten und von Osten nach Westen. Im Neolithikum ist der Mensch sesshaft geworden. Jetzt beginnt er wieder zu nomadisieren. Marion lebt auf der Straße. Sie hat das Leinsäckchen mit Peters Brief um den Hals. Sie fühlt Peter an ihrer Seite, und sie fühlt ihn am klarsten, wenn sie geht. Also geht sie. Sie haben sich bis nach Kauern durchgeschlagen.
Klein Oels haben sie umgangen: Dort sind die Russen. Marion und Muto sind über die Zuckerrüben- und Weizenfelder gewandert, auf denen hoch das Unkraut steht. Sie sind an der Sandgrube vorbei in Richtung Weigwitz gegangen, über die Brücken von Olbenbach und Ohle, vorbei an den beiden riesigen Friedenseichen von Kauern, gepflanzt 1813 nach der Völkerschlacht bei Leipzig. In den beiden Löschteichen spiegelt sich der Frühsommerhimmel. Peters Wunsch war es, dass Marion mit Muto in Kauern leben sollte.
Sie gehen durch das Dorf. Paschkes Gasthaus ist leer, die Fenster eingeworfen, die Tür aus den Angeln gerissen. Hungers, Fiebigs, Weißens sind weg. Überall surren Fliegen. Auf der Straße der aufgequollene Kadaver einer Kuh. In den Feldern Kadaver von Schafen, bedeckt vom Heer der Fliegen. Bei jedem Untergang gibt es Profiteure. Die Fliegen von Kauern sind groß und blauschillernd. Sie summen in der Stille, erheben sich in surrenden Geschwadern, sinken wieder nieder. Das Häuschen von Buchwalds steht ebenfalls leer. Hoffentlich finden sie keine Toten. Das wäre nicht schön. Sie findenkeine. Keine toten Menschen, keine lebenden. Marion ist in Kauern, wie Peter es gewünscht hat. Sie hebt die Hand. Sie berührt den Brief leicht, der an dem Säckchen um ihren Hals hängt.
So wie ich Dich dort geborgen weiß, so lege ich das Wohl und Wehe von Kauern voll Vertrauen in Deine Hände. In den sechzehn langen Tagen der Haft habe ich mir Dein Leben schon teilnehmend ausgemalt. Der Ausbau des Oberstocks bis zur Schüttbodentreppe, also noch rechts zusätzlich zwei große Stuben, wovon die hintere zweifenstrig mit den Berliner Möbeln des Wohnzimmers geschmückt wäre und die Geschirrkammer rechts als Badezimmer
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