Wer wir sind
Krebs gestorben. Es ist ein milder Frühlingsabend. Charlotte hilft den Kindern auf den Wagen. Und wenn man einen Moment im Leben wählen müsste, in dem man die Ewigkeit verbringt, welchen würde man wählen wollen?
Vielleicht nicht einmal den glücklichsten. Nicht einen Augenblick des Jubels, der Seligkeit, der reinen Ekstase. Vielleicht einen Augenblick in Erwartung des Glücks oder im Nachgeschmack erlebten Glücks, vielleicht einen ganz alltäglichen Moment. Es wäre ein regnerischer Tag, und Fritzi sitzt vor dem Bücherregal.
Charlotte sitzt daneben in einem Sessel, blättert in einer Zeitschrift. Sie raucht eine Zigarette. Der dünne aromatische Rauch kräuselt sich in der Stille. Regentropfen schlagen leise ans Fenster. Fritzi nimmt ein Buch aus dem Schrank, blättert, stellt es woanders wieder hinein. Er nimmt ein anderes Buch, schlägt es auf, lacht leise in der Stille: Oder vielleicht wäre auch das schon zu viel.
Vielleicht würde der Moment genügen, kurz bevor Fritzi das Zimmer betritt. Charlotte stellt Teetassen auf das Tischchen, sie entzündet die Zigarette, die sie in seiner Gegenwart rauchen wird. Oder noch weniger. Vielleicht nur die Stunde am Morgen, bevor Fritzi ankommt. Der Tag davor. Ein Tag allein, nicht unterschieden von allen anderen, ausgezeichnet nur durch das Wissen, dass es der letzte Tag allein ist, für eine kleine Weile. Die Pferde ziehen an.
Es geht los. Der nächste Abschnitt beginnt. Die Bäume der Allee wandern in der Dämmerung stetig nach Westen. Die Pferde zuckeln voran, im Kloppediklopp ihrer Hufe, ergeben in die Gesetze, die über sie verhängt sind. Charlotte Schulenburg blickt hinaus in den Abend.
Sie ächzt lautlos unter der Strapaze, die es bedeutet, am Leben zu sein. Sie wünschte, sie hätte es hinter sich. Sie wünschte, sie wäre tot. Sie wünschte, sie alle wären tot, sie und alle ihre Kinder, im nächsten Moment ruft sich Charlotte Gräfin von der Schulenburg zur Ordnung. Sie ruft sich zurück. Der nächste Abschnitt beginnt.
Harald und Dorothee Poelchau haben Berlin am 4. April verlassen. Sie sind tagelang unterwegs gewesen. Auf der Strecke nach Lichtenfels sind sie bombardiert worden. Bis Schloss Rentweinsdorf sind sie gelaufen, dann haben sie sich auf den Gutshof Maroldsweisach durchgeschlagen. Am 11. April kommen die Amerikaner.
Vier Tage später holt Maria von Wedemeyer die Poelchaus mit Pferd und Wagen nach Bundorf zu ihrer Cousine Hesi von Truchseß: Hesis Mann Dietz, der in Tegel in Haft ist, hat Harald Poelchau eingeladen, hier das Kriegsende abzuwarten. Die kleinen Orte, die Dörfer, die unzerstörten Gutshäuser berühren Harald merkwürdig. Der Singsang des Dialekts erinnertihn ein wenig an Schlesien. Die Pracht der Wiesen in diesem besonders wundervollen Frühling ist schwer zu tragen. War je ein Frühjahr so verschwenderisch üppig? Wie hält man es aus? Schwer zu begreifen ist das Wort Frieden. Schwer zu ertragen ist diese Stille, diese dröhnende Ruhe. Fremd und einsam gehen die Flüchtlinge aus dem Inferno der Hauptstadt durch die blühenden Felder und Wiesen, wo alles zu Hause ist, nur sie nicht. Wo ist Dietrich Bonhoeffer? Lebt er noch? Hat Maria etwas versäumt?
Die Linden sind zu Stümpfen verkohlt. Das Brandenburger Tor steht noch, ein Dinosaurier, schrundig geschossen. Geisterhaft ragt die Siegessäule aus dem Geröll. Über allem die tiefen Wolken schwelender Brände, der schwebende Ruß. Es fällt schwer, sich zu orientieren. War hier einst das Regierungsviertel? Ist dies das Hotel Kaiserhof, in dem Marion Yorck ihre Hochzeit gefeiert hat? Das Hotel hat schon im Herbst 1943 mehrere Treffer abbekommen, damals, als Henning von Tresckow von der Front kam, um den Führer zu töten und den Krieg zu beenden. Nun wirkt es fast heil, inmitten der Zerstörung. Die SS hat ein paar Räume notdürftig instand gesetzt. Marion hat eine Vorladung bekommen, sich hier zu melden. Ein SS-Gruppenführer empfängt sie und bietet ihr eine Witwenpension an.
Marion glaubt nicht richtig zu hören. Sie soll aus diesen Händen etwas annehmen? Sie lehnt mit großer Entschiedenheit ab. Der SS-Mann überlegt. Dann sagt er: »Wollen Sie seinen Brief? Den Abschiedsbrief Ihres Mannes. Ich habe ihn hier.«
Christel von Dohnanyi war noch einmal bei Sonderegger. Sonderegger hat bedauernd die Hände gehoben. Er weiß vonnichts. Er hat nur Befehle ausgeführt. Er hat Hans von Dohnanyi persönlich nie übelgewollt, das wird Christel bezeugen können, er hat keine
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