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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Stein in die Hand nehmen und sich ihm verbunden fühlen, sie hat das getan.
    Sie tut es. Sie hält einen Stein in der Hand.Am 2. Mai gegen 15 Uhr hat der letzte Stadtkommandant von Berlin, General Helmuth Weidling, den Widerstand gegen die Rote Armee einstellen lassen und die Kapitulationsurkunde unterzeichnet. Christel von Dohnanyi und ihr Sohn Christoph haben einen Schrank auf Speckschwarten gestellt. Wenn die Russen ins Haus kommen, kriechen die Mädchen in die Wandnische. Dann kann Christoph den Schrank vor die Nische schieben. Christophs Bruder Klaus ist als Soldat eingezogen. Niemand weiß, wo Hans von Dohnanyi ist.
    Emmi und ihr Bruder Justus sind von Gefängnis zu Gefängnis gezogen. In der Lehrter Straße heißt es, Klaus und Rüdiger Schleicher seien nach Plötzensee gebracht worden. Der Scharfrichter ist aber längst geflohen. Klaus ist nicht in Plötzensee. Auf der Straße liegt ein erschossenes Pferd. Sie säbeln mit Justs Taschenmesser große Stücke davon ab, ebenso wie die anderen, die herbeigelaufen kommen, mit Messern, mit Schüsseln, mit Eimern. In kürzester Zeit ist das Tier verschwunden, bis auf die Knochen und Eingeweide. Das Blut ist hellrot und dünn. Es ist schwer abzuwaschen. Emmi hat es an den Händen, an den Kleidern, auch in der Bonhoefferschen Küche klebt es überall.
    Freya steht vor der verlassenen Spielschule, als ein fliedergeschmücktes russisches Motorrad die Kirschallee herunterkommt. Wenige Stunden später wälzt sich die russische Armee durch Kreisau. Halb zerschossene Wagen rollen über die Dorfstraße, mit Beute beladen und mit singenden Siegern. Muto, Marion und Freya stehen am Hofeingang und sehen diesem Einzug zu. Die Männer wenden die Köpfe, als sie die drei Frauen da stehen sehen. Sie sehen ihnen in die Augen. Sie lachen.
    Es folgen Nächte im Keller, in den Scheunen der Bauern,Hetzjagden über die Wiesen, Momente großer Angst und Bedrängnis.
    Nach dem Durchzug der Armee wird es ruhiger. Zeumer hat den Dorftreck zurück nach Kreisau gebracht. Die Bestellung der Felder ist im Gange. Die herrenlosen Kühe, die nach der Evakuierung der Dörfer überall auf den Wiesen brüllten, sind zusammengetrieben. Die Arbeiter auf Kreisau erhalten Lebensmittel als Lohn. Helmuth hat recht gehabt,
    Bleibt in Kreisau, so lange es geht! Zieht nicht heimatlos durch das Restreich!
    Deutschland hungert, aber Kreisau hat zu essen.
    Freya, Marion und Muto haben auch Romai und die Kinder aus dem Gebirge zurückgeholt. Sie wohnen nun alle zusammen im Berghaus: Ein voll belegtes Haus ist den Russen gegenüber leichter zu halten. Zur Nacht verriegeln sie sorgsam Türen und Fenster. Wer tagsüber hinausgeht, nimmt Sabine mit oder Konrädchen: Die Russen verschonen im Allgemeinen die Mütter kleiner Kinder.
    Allmählich lernen es die Frauen aber, sich auch ohne den Schutz der Kinder zu bewegen. Man muss den Russen ruhig und furchtlos begegnen. Man muss ihnen auf Augenhöhe entgegentreten, dann werden sie meist ganz vernünftig. So können sie sich nun gegenseitig dazu beglückwünschen, dass sie diese wilden Wochen tatsächlich wohlbehalten überstanden haben: Freya Moltke, Romai Reichwein, Marion und Muto Yorck, Helmuth Moltkes alte Haushälterin Frau Pick und alle sechs Kinder. Freya hat sogar eine Lehrerin aus Schweidnitz kommen lassen, die nun ebenfalls auf Kreisau wohnt, um die Kinder zu unterrichten.
    Es gibt natürlich keine Unterrichtsmaterialien. Aber Casparchen hat dennoch ein neues Heft aufgeschlagen. Er hat einneues, sauberes Blatt Papier auf den Umschlag seines alten Schulhefts geklebt. Darauf hat er seinen Namen geschrieben, mit extra großen Lettern.
    Helmuth von Moltke
    Freya fühlt sich noch immer getragen, geschützt. Sie ist noch immer über den Alltag erhoben. Es gibt allerdings Anfechtungen. Warum das Attentat? Und warum sind die Alliierten nicht schneller gewesen? Warum sind sie nicht vier Monate früher gekommen, in einem Krieg, der beinahe sechs Jahre gedauert hat?
    Freya kommt in ihre Küche, und am Tisch sitzt ein Russe. Da ist er: Serpuchoff. Er hat die Füße auf den Tisch gelegt. Er hat den Zylinder des Feldmarschalls auf dem Kopf. Er isst aus einem großen Glas Marmelade. Er strahlt Freya an, mit blitzenden Zähnen. Er isst die Marmelade auf und geht wieder fort.
    Marion und Muto haben Kreisau verlassen. Der Krieg ist zu Ende. Marion will nach Berlin. Sie möchte wissen, wie es um das Haus in der Hortensienstraße steht. Marion muss wandern. Sie kann nicht

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