Wer wir sind
eines Dorfes die Manschettenknöpfe des Vaters. Und im Jahr 1948 hat sie sogar den Familienschmuck zurückerbeutet, der teilweise schon in Amerika gelandet war.
Das war wahrhaftig ein großes Wunder. Die Augen sind ihr schier übergegangen. Alles hatte zu ihr zurückgefunden: Ohrringe, Ringe, Ketten, ihr silbernes Besteck, die silberne Teekanne mit Zubehör, sogar das goldene Zigarettenetui des Schwiegervaters. Nun wird sicher auch die Mutter Ruhe in ihrem Grabe finden.
Anna Freiin von Lerchenfeld, geborene von Stackelberg, ist in der Gefangenschaft erkrankt und 1945 in Haft verstorben. Nina hat sie nicht mehr wiedergesehen. Die Mutter steht ihr aber oft vor Augen, mit ihren winzigen russischen Zigaretten, ihrer Schärfe, ihrem Witz, ihrem Eigensinn. Sie entstammte dem baltischen Adel. In Deutschland ist sie nie wirklich heimisch geworden, und bis zuletzt hat sie deutsch mit einem russischen R gesprochen. Nina selbst ist ja sogar noch im russischen Kowno geboren. An diese frühe Zeit hat sie natürlich keine Erinnerung mehr. Aber eine ganze Kindheit lang hat sie den eindringlichen Erzählungen ihrer Mutter gelauscht.
Eine ganze Kindheit lang hat sie sich nach der Kindheit der Mutter gesehnt: nach der Weite des Ostens, nach hellen Sommernächten ohne Finsternis, nach Buchweizengrütze mit Rahm und den Klängen der Zarenhymne. Und aus dieser Zeitstammen eben auch die Mondsteinketten, die Nina wieder aufgespürt hat.
Aus der Kindheit der Mutter stammen die Buchara-Teppiche, die Jabotnadel und natürlich die Perlenkette der Anna Iwanowna, das wichtigste Familienerbstück. Nun hat das alles wieder heimgefunden. Nina hat sich in ihrem Bamberger Elternhaus wieder genau so eingerichtet, wie alles früher einmal war. Als einzige Veränderung hat sie das Wappen der Grafen von Stauffenberg über der Tür anbringen lassen.
Sie wird nun ihr Haus nie wieder verlassen. Sie wird hier bleiben, rauchend, mit ihren Patiencen, umgeben von ihren Hunden, inmitten ihrer Dinge. Gelegentlich findet sie sogar noch immer einen Schatz. Erst neulich ist es ihr wieder gelungen, einem Antiquitätenhändler zwei Leuchten zu entwinden, die nachweislich Nina Stauffenberg gehören und auf widerrechtlichen Wegen in seinen Besitz gelangt sein müssen. Geldsorgen hat sie auch nie gehabt: Die Witwe Claus Stauffenbergs hat von Anfang an eine sehr großzügige Pension bezogen, im Gegensatz zu den Witwen der anderen. Und ist es nicht im Grunde ein Glück, dass der Staatsstreich gescheitert ist?
Ein Erfolg hätte doch nur zu Enttäuschungen geführt. Mit Sicherheit hätte es Gerangel gegeben, Streitigkeiten, Zerwürfnisse. Nina hadert nicht mit ihrem Schicksal. Sie ist zum Glück nicht der gefühlsselige Typus. Sie sieht es nüchtern: Claus hat versucht, Hitler umzubringen, das musste er wohl tun, er hat es getan, es ist das Letzte geblieben, was er getan hat, und so ist es am besten für ihn. Auf diese Weise ist es ihm doch erspart geblieben, als Verräter und Verschwörer angeprangert zu werden. Er hat es auch nicht erleben müssen, dass man ihn mit Kommunisten auf eine Stufe stellt, wie das zu Ninas bleibender Empörung bei den Gedenkveranstaltungen zum fünfzigsten Jahrestag des Attentats geschehen ist.
So wie es ist, ist es immer am besten. Traurig ist es allerdings, dass Claus seine vielen Enkel und Urenkel nicht mehr kennengelernt hat. Claus hat ja sehr an seinen Kindern gehangen. Tatsächlich hat Nina es manchmal empfunden, dass Claus mit den Kindern langmütiger, ihnen womöglich inniger verbunden war als sie selbst. Oder er wäre es möglicherweise gewesen. Aber er war ja niemals zu Hause.
Im Nachhinein ist auch das allerdings günstig zu werten. So war Nina es jedenfalls von jeher gewöhnt, allein zu leben, allein zu entscheiden, allein ihr Leben zu gestalten. Und Claus lebt ja in den Kindern weiter, in seinen Enkeln und Urenkeln.
Hitler hatte geschworen, die Stauffenbergs auszurotten bis ins letzte Glied. Aber Nina und Claus haben dreiundvierzig Nachkommen. Und natürlich freut sich Nina immer sehr, wenn jemand aus der Familie sie besuchen kommt. Sie ist allerdings immer auch froh, wenn sie wieder gehen. Im Grunde ist sie am liebsten allein.
1947 bietet die wiedergegründete SPD Willy Brandt an, Vertreter des SPD-Parteivorstandes in Berlin zu werden. Willy ist zu diesem Zeitpunkt Presseattaché der norwegischen Militärmission. Er zögert nicht. Berlin ist voll Not und Elend und Kriminalität. Aber etwas wartet hier auf ihn, ruft ihn.
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