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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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Groteske.
    »Du musst unbedingt in die Ausstellung!«
    Das sagt Kurt gerade zu Günther Weisenborn. Er kommt nach wie vor in Odas Atelier. Er wirft sich auf Odas Sofa, er witzelt, er redet. Er begutachtet ihre Arbeit, beginnt eine Diskussion, aber dann geht er wieder, und nur sein Abdruck bleibt auf dem Sofa zurück. Oda sehnt sich nach Heiterkeit. Sie sehnt sich nach Helligkeit, Leichtigkeit, Wärme, Gelächter.
    »Entartete Kunst. Du musst dir das unbedingt ansehen. Grosz, Klee, Schmidt-Rottluff, Ernst. Fantastisch. Eine letzte Chance, bevor sie endgültig vernichtet oder ins Ausland verkauft werden. Oder bis Göring sie alle in Carinhall einlagert.Er hat sich einen Franz Marc unter den Nagel gerissen, den ›Turm der blauen Pferde‹. Ich habe das Bild bei ihm gesehen. Göring ist ein begabter Sammler. Er hat auch einen van Gogh. Er hat eine Brückenlandschaft von Cézanne.«
    Kurt muss es wissen. Er kennt Görings Anwesen in der Schorfheide: Er hat in Carinhall die Schnitzereien über den Türen gefertigt. Wahrscheinlich hat Libertas ihn Göring empfohlen. Oda hat Kurt nicht danach gefragt, aber es ist anzunehmen.
    »Und er hat einen Löwen«, sagt Kurt. »Der zweite Mann im deutschen Staate fläzt im germanischen Lederwams auf germanischen Fellen, in einer Halle, die doppelt so groß ist wie das Sudetenland. Neben ihm brät ein germanischer Ochse am Spieß. Und dann geht die Tür auf, und sein Löwe kommt rein. Original germanischer Löwe. Typisches altgermanisches Haustier.«
    Am liebsten stünde Oda jetzt auf und gäbe ihm einen Kuss. Am liebsten führe sie mit der Hand durch sein Haar, zöge ihn an seinen Faunsohren.
    »Die Ausstellung zeigt wirklich wunderbare Arbeiten«, sagt Elisabeth zu Günther. »Aber die Besucher. Diese Ignoranz, dieser Hohn. Endlich können sie alles bespucken, was ihnen zu hoch ist. Und dann die Schilder an den Wänden: Seelische Verwesung. Geisteskranke Nichtskönner. Hinter Scharffs ›Weiblichen Torso‹ haben sie ein Foto von einem Verrückten gehängt. Natürlich sieht der ›Torso‹ dadurch ganz obszön aus. Er sieht aus wie ein geschändeter Leib. Wie das Werk eines verrückten Mörders.«
    Es klingelt. Libs geht zur Tür. Hinter den milchigen Glaspaneelen ist der Umriss einer Frau auszumachen. Libs öffnet. Es ist Marta. Die blonde Marta, die Günther neulich mit nach Liebenberg zum Zelten gebracht hat.
    »Marta«, sagt Libs. »Wie schön! Komm, ich nehme dir den Mantel ab.«
    »Lass nur«, sagt Marta, »nicht nötig.« Sie eilt an Libs vorbei, ruft durch die Tür ins Wohnzimmer. »Walter ist frei!«
    Einen Moment ist alles still. Dann erhebt sich der Chor. Alles steht auf, alles umdrängt Marta.
    »Er ist heute freigekommen. Er wird gleich hier sein.«
    Elisabeth umarmt Marta, Oda umarmt Marta. Marta strahlt. Sie ist atemlos. Ihre Augen glänzen. Ihre Wangen sind rot. Es klingelt wieder.
    »Das ist er sicher!«
    Aber es ist Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. Es klingelt. Diesmal sind es die Engelsings von der TOBIS-Filmgesellschaft. Alles ertrinkt nun im Lärm der Begrüßungen, der zügig erscheinenden Gäste.
    »Es sind alle da! Wir können anfangen. Was lesen wir heute?«
    ›Das Abenteuerliche Herz – Figuren und Capriccios‹. Eine Sammlung von Ernst Jünger. Es ist die zweite Fassung des Werkes. Die erste ist 1929 herausgekommen, unter etwas anderem Titel. Vom ursprünglichen Text ist kaum ein Drittel erhalten geblieben. Offenbar war der Autor bestrebt, die politischen Teile weitgehend zu tilgen.
    »Es geht ihm diesmal eben um etwas anderes. Es geht ihm um Darstellung seiner poetologischen Wahrnehmungsweise. Er will uns zeigen, dass es mehr als eine Art gibt, sich der Welt zu nähern. Dass man durch intuitive Erfühlung ebenso gut wie durch scharfe Beobachtung zu Erkenntnissen gelangen kann.«
    »Intuitive Erfühlung. Wenn ich das schon höre. Stell dir mal vor, Marx hätte ›Das Kapital‹ intuitiv erfühlt. Geh mir weg mit Jüngers Erfühlung.«
    »Es ist schon wahr. Dass er die Tätigkeit des Verstandes soals Ameisenfleiß herabwürdigt, kann man nicht zugeben. Nur die Ergebnisse des Verstandes sind schließlich auch für andere nachprüfbar.«
    »Aber am Anfang jeder Entdeckung steht doch die Intuition. Selbst in der Wissenschaft ist es so. Am Anfang steht eine Idee, wie man es machen könnte. Eine richtige Frage.«
    »Das Genie erfasst Lösungen intuitiv. Es erfasst im Flug, während der nur Begabte zu Fuß gehen muss.«
    »Es geht doch darum, was man am Ende hat.

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